Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

456 V. Reichstag. Art. 29. 
zur Zeit mehr bewegt wird als von Fragen idealer Natur und daß die Frage, 
ob die konservative oder die liberale Idee die Vorherrschaft in der Volksver- 
tretung haben soll, nicht die Rolle spielt, die ihr in Ländern mit sehr alten und 
gefestigten parlamentarischen Einrichtungen zugefallen ist, ein Umstand, der 
dazu geführt hat, daß in solchen Ländern das Parlament nur in zwei große 
Gruppen zerfällt, die — je nachdem die eine oder die andere bei der letzten 
Wahl gesiegt hat — den Anspruch auf einen bestimmenden Einfluß in der 
Staatsregierung erheben. Sind es aber in Deutschland Fragen wirtschaft- 
licher Natur, die im öffentlichen Leben den Hauptfaktor bilden, so ergibt 
sich daraus, daß sich die Parteien in der Volksvertretung unter wirtschaftlichen 
Gesichtspunkten gruppieren müssen, und daraus folgt eine verhältnismäßig 
weitgehende Zersplitterung der Parteien und ferner die Tatsache, daß die 
einzelnen Abgeordneten oder wenigstens viele von ihnen sich je nach ihrer 
Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Partei berufen fühlen, die Interessen 
einzelner Berufsstände besonders zu vertreten. 
Die Mitglieder des Reichstags sind „an Aufträge und Instruktionen 
nicht gebunden.“ Hierin liegt das Verbot des sogen. imperativen Mandats 
und daraus folgt, daß die Abgeordneten an Versprechungen, die sie ihren 
Wählern, sei es deren Gesamtheit oder einzelnen von ihnen oder anderen 
Personen vor oder nach der Wahl gegeben haben, rechtlich nicht ge- 
bunden find, selbst wenn die Wahl die stillschweigende oder ausdrückliche 
Gegenleistung für die Erfüllung des Versprechens darstellen sollte. Deshalb 
ist kein Abgeordneter gehindert, nach seiner Wahl sich einer anderen politischen 
Fraktion anzuschließen als derjenigen, für die er gewählt war. Durch diese 
Bestimmung soll die Unabhängigkeit der Abgeordneten und die Bedeutung 
des Parlaments als eines zu selbständigen Dispofitionen ermächtigten poli- 
tischen Machtfaktors gesteigert werden. Die Abgeordneten sollen nur nach 
ihrer freien überzeugung stimmen. In der preuß. Verf. Urk. ist dies in dem 
dem Art. 29. entspechenden Art. 83 ausdrücklich hervorgehoben. Aber auch 
in Ansehung der Vorschrift, daß die Abgeordneten an Aufträge nicht gebunden 
find, stellt die Verfassung einen kaum erreichbaren Idealzustand vor. Die 
politischen Fraktionen haben sich über das ganze Reich organisiert und die 
bei weitem überwiegende Anzahl der Abgeordneten wird auf Grund der 
Zugehörigkeit zu einer bestimmten Fraktion oder auf Grund des Versprechens 
einer solchen beizutreten gewählt. Die Abgeordneten können von dem Ver- 
sprechen der Fraktion sich anzuschließen, in deren Namen sie gewählt sind, 
aus politischen Gründen in den meisten Fällen nicht zurücktreten, es sei 
denn daß sich im Laufe der Wahlperiode die politische Stellung der Fraktion 
wesentlich ändert. Die Fraktionen aber haben ein mehr oder weniger 
bestimmtes politisches Programm und ihre Stellung zu vielen wichtigen 
Regierungsvorlagen steht schon vor der Wahl fest. Tatsächlich haben also 
in solchen Fällen die Abgeordneten Aufträge übernommen, an die fie sich 
selbstverständlich moralisch gebunden fühlen. Daran liegt nichts verfassungs- 
widriges, wenn diese aprioristische politische Stellungnahme ihrer freien 
Überzeugung entspricht. Der Zusammenschluß der Abgeordneten zu Fraktionen 
bringt aber auch eine Geschlossenheit nach außen mit sich, die treffend mit 
dem Schlagwort „Parteidisziplin“ bezeichnet wird. Die psoychologischen 
Momente, die diesem Zusammenschluß zugrunde liegen, sind ebenso natürlich 
als begreiflich: der Wunsch durch Einigkeit stark zu sein und nicht wert-
	        
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