Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

464 V. Reichstag. Art. 30. 
richter im Parlamentsgebäude ein und nahm gegenüber einem Abgeordneten, 
der als Zeuge in einem Ermittelungsverfahren vernommen wurde, mit 
dessen Zustimmung eine Durchsuchung nach Schriftstücken in den zu deren 
Aufbewahrung für den betreffenden Abgeordneten ausschließlich bestimmten, 
im Reichstagsgebäude befindlichen Behältnissen vor. Eine Durchsuchung 
gegen den Willen des Abgeordneten hat also damals nicht stattgefunden 
und es liegt nach dieser Richtung noch kein Präzedenzfall vor; vgl. die 
Erklärung des Reichstagspräsidenten Graf Ballestrem in der Reichstags- 
sitzung v. 4. Dez. 1906. Im übrigen aber ist nicht zu bezweifeln, daß bei 
einer Durchsuchung, die in einem nicht gegen den Abgeordneten anhängigen 
Strafverfahren auf Grund des § 103 St. P.O. angeordnet wird und die 
nicht zu dem Zweck stattfindet, den Abgeordneten zur Verantwortung zu 
ziehen, Art. 30 keine Anwendung finden kann. Denn eine solche Durch- 
suchung, mit der nur das Ziel verfolgt wird, Beweismaterial gegenüber 
einem anderen Beschuldigten zu schaffen, ist nach denselben Gesichtspunkten 
zu beurteilen wie die Zeugenpflicht. Wie letztere ist fie begrifflich von einer 
auf die Verfolgung des Abgeordneten berechneten Maßregel verschieden, und 
wenn das bei der Durchsuchung zu Tage geförderte Beweismaterial die 
Folge hat, daß gegen den Abgeordneten selbst ein Strafverfahren eingeleitet 
werden muß, so ist auch dieser Fall nicht anders zu beurteilen, als wenn 
eine Zeugenvernehmung das gleiche Ergebnis hat, d. h. wenn ein Abgeordneter 
wirklich strafbare, durch Art. 30 nicht gedeckte Handlungen begangen hat, 
so liegt es nicht im Sinne der Bestimmung des Art. 30, daß diese Hand- 
lungen verborgen und ungefühnt bleiben. Die Polizeigewalt, die dem 
Präsidenten des Reichstags im Parlamentsgebäude nach § 62 G.O. zusteht, 
wird dadurch in keiner Weise berührt, denn diese Bestimmung hat nicht 
die Bedeutung für das Reichstagsgebäude eine Exterritorialität zu schaffen 
und an kriminalpolizeiliche Funktionen ist dabei überhaupt nicht gedacht. 
Eine solche Delegation hätte auch nicht in der Kompetenz der G.O. gelegen, 
die nicht eine Ausnahme von einem Reichsgesetz, der Strafprozeßordnung, 
festsetzen darf, sondern die Bestimmung besagt nichts anderes, als daß der 
Präsident das Hausrecht im Reichstagsgebäude ausübt, wie etwa in den 
Diensträumen einer Staatsbehörde deren Verwaltungschef; vgl. die Erklärung 
des Reichstagspräsidenten v. 24. März 1884 St.B. 198, Laband in d. 
D.Jur. Zeit. 1906 S. 955, Perels, das autonome Reichstagsrecht Berlin 
1903 S. 102. Gegen die Zulässigkeit der Durchsuchung hat sich Müller- 
Meiningen in Hirth's Annalen 1906 S. 655 in Verfolg seines ablehnenden 
Standpunktes bezüglich der Zeugnispflicht der Abgeordneten ausgesprochen. 
XIII. Die Verantwortung der Abgeordneten. 
Die geschäftsordnungsmäßigen Folgen disziplinwidriger Außerungen 
der Abgeordneten sind im Art. 80 vorbehalten. Ihre Anwendung unter- 
liegt dem diskretionären Ermessen des Präsidenten, eventuell des Plenums; 
vgl. Art. 27 B II S. 451. Von einer gewissen politischen Verantwortung 
können sich die Abgeordneten sowohl für ihre Abstimmung wie für alle 
ihre Außerungen nicht lossagen. Sie liegt nicht auf rechtlichem Gebiet und 
ist deshalb ebenso wie die politische Verantwortung der Regierung der 
Regelung durch die Verfassung entzogen. Auch für ihren Umfang gilt
	        
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