472 V. Reichstag. Art. 31.
Praxis des Reichstags und der Behörden sowenig Streit wie in der Literatur;
vgl. die Reichstagsverhandlungen v. 19. März 1873 St. B. 39 f., v. 12. März
1874 St.B. 305ff., v. 21. Nov. 1874 St. B. 244 ff. und hier wurde auch
von den Abg. Windthorst und Lasker, im Gegensatz zu ihrem Standypunkt
für Art. 31 Abs. 1, die Ansicht vertreten, daß dem Reichstag nicht das
Recht zustehe, die Freilassung eines rechtskräftig verurteilten Abgcordneten
aus der Strafhaft zu verlangen; der Abg. Lasker drückte dies dahin aus,
„daß da, wo die ordentliche Justiz des Landes einmal gesprochen habe, es
nicht angemessen sei, daß die bereits begangene Vollstreckung des Rechts-
spruches wieder aufgehoben werde zu Gunsten eines politischen Aktes“; ebenso
die Literatur, vgl. Meyer § 133 A. 17.
Die Festsetzung einer Gesamtstrafe, ein Fall, der i. J. 1899 praktisch
wurde und in der Reichstagssitzung v. 28. Febr. 1899 erörtert worden ist,
gehört in das Gebiet der Strafvollstreckung, einmal mit Rücksicht auf die
Stellung der einschlägigen Bestimmungen in dem die Strafvollstreckung
behandelnden 7. Buche der Strafprozeßordnung §§ 492 ff., ferner weil die
Entscheidung nach § 494 Abs. 1 ohne mündliche Verhandlung erlassen wird
und gegen die Entscheidung nur die sofortige Beschwerde zulässig ist.
E. Die Cinvilhaft.
Die Bestimmung des Art. 81 Abs. 2 über die Schuldhaft ist jetzt
gegenstandslos, da die Schuldhaft durch das Bundesgesetz v. 29. Mai 1868
B. G. Bl. S. 237 aufgehoben ist. Doch ist anzunehmen, daß Art. 31 alle
anderen noch in Geltung befindlichen Fälle der Civilhaft umfaßt, in denen
der Haftgrund auf der Nichterfüllung eines civilrechtlichen Anspruchs beruht,
da man in diesen Fällen wohl von einer Schuldhaft im weiteren Sinne
des Wortes sprechen kann. Hierher gehören die Fälle der §§ 888, 889
C. P. O. Für den Fall des Offenbarungseides, der nach §§ 807, 883, 901
C. P.O. wegen fruchtloser Pfändung zu leisten ist, wird die Unzulässigkeit
der Haft für Parlamentsmitglieder ausdrücklich durch § 904 C.P.O. fest-
gesetzt. Ein argumentum e contrario für die anderen Fälle ist hieraus
nicht abzuleiten, da diese Bestimmung ebenso wie die des § 905 nicht
erlassen ist, um eine Lücke des Art. 31 auszufüllen, sondern um das Privileg
auf alle einzelstaatlichen Parlamente auszudehnen. Der persönliche Sicher-
heitsarrest, der auf Grund des § 918 C. P.O. angeordnet wird, gehört eben-
falls hierher. Auch der Umstand, daß im Abs. 3, der das Korrelat zu
Abs. 1 und Abs. 2 für die nach Beginn der Sitzungsperiode eingetretenen
Fälle bildet, die umfassende Bezeichnung „Civilhaft“ gewählt ist, weist
darauf hin, daß das Wort „Schuldhaft“ nicht zu eng auszulegen ist.
Dagegen kann Abs. 2 selbst bei extenfiver Auslegung nicht auf die Haft
bezogen werden, die gemäß §§ 380, 390 C.P.O. zur Erzwingung der Zeugen-
pflicht angeordnet wird. Denn diese Haft ist im Gegensatz zu den vorher
genannten Fällen nicht gegen den Schuldner eines civilrechtlichen Anspruchs
gerichtet und hat mit der Schuldhaft nichts zu tun; val. Arndt S. 143,
Sontag in d. D. Jur. Zeit., 1906 S. 1011, anderer Ansicht Roth daselbst
S. 1361. Unter Abs. 3 kann diese Haft einbezogen werden, weil dort der
Ausdruck Civilhaft gewählt ist, und man könnte wegen völliger Gleichheit
des Rechtsgrundes zur Civilhaft auch die im Strafprozeß zur Erzwingung