Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

VII. Eisenbahnwesen. Art. 45. 541 
liche Kapital sich anderen Unternehmungen zugewendet haben würde, wenn 
die Reichspolitik rigoros in die Tariffestsetzungen eingegriffen hätte. 
Aus diesen Anschauungen heraus ist die Bestimmung des Art. 45 über das 
Tarifwesen entstanden, die weniger einen bestimmten Rechtssatz enthält als 
ein Programm für die Reichspolitik auf diesem Gebiet. Das Reich soll die 
Zentralstelle sein, von der aus gewacht wird, daß aus Rücksicht auf den 
fiskalischen Nutzen nicht die wirtschaftlichen Interessen des Publikums ge— 
schädigt werden. Deshalb findet kein Zwang statt, denn dies wäre eine 
Verfügung über fremde Kassen, sondern nur eine Einwirkung, und diese 
Einwirkung ist ein relativ unsicherer Faktor, weil bei der Vielgestaltigkeit 
und unausgesetzten Wandlungsfähigkeit der wirtschaftlichen Situation mit 
bestimmten Größen und Zahlen zu operieren von Hause aus vergeblich war; 
es blieb nur übrig, einen Grundsatz aufzustellen, der ein Versprechen ist, 
und seine Ausführung der bona sides der Reichsorgane zu überlassen. 
Daß das Reich, wenn es überhaupt Stellung zur Tarifpolitik nimmt, 
nur an der Herabsetzung der Tarife interessiert ist, hat Fürst Bismarck in 
einem Votum v. 4. Febr. 1875 ausdrücklich anerkannt; vgl. v. Poschinger 
Aktenstücke 1 S. 197. Wie weit die Erzielung der Gleichmäßigkeit und die 
Herabsetzung der Tarife möglich ist, hängt von der jeweiligen wirtschaftlichen 
Lage ab. Der Bundesrat regt an und wirkt nach Maßgabe seines tatsäch- 
lichen Einflusses ein. Die schließliche Entscheidung aber liegt de iure bei 
den Bahnverwaltungen selbst. Der Begriff der „größeren Entfernung“ ist 
relativ; auch dafür läßt sich kein allgemeiner Grundsatz aufstellen. Auf 
denselben Gesichtspunkt ist die Aufnahme des Wortes „tunlichst“ zurück- 
zuführen, das für die Einführung des Einpfennig-Tarifs an Stelle einer 
bestimmten Zeitgrenze die Rücksicht auf die wirtschaftliche Lage vorschreibt. 
Welche Kategorie von Waren sich den im Art. 45 als Beispielen 
aufgezählten Rohprodukten als „ähnliche Gegenstände“ anschließt, ergibt 
sich aus den Kriterien, die für die im Art. 45 genannten Produkte gleich- 
artig sind. Es handelt sich nämlich durchweg um Waren, die bei ver- 
hältnismäßig hohem Gewicht einen verhältnismäßig niedrigen Wert haben, 
und entsprechend ist der Begriff der „ähnlichen Gegenstände“ zu bestimmen. 
Unter einem dem Bedürfnis der Landwirtschaft und Industrie entsprechend 
ermäßigten Tarif ist ein Tarif zu verstehen, der soweit ermäßigt ist, als 
es mit der Ertragsfähigkeit der Eisenbahnunternehmungen noch vereinbar 
ist. Landwirtschaft und Industrie sind genannt, weil es sich um Roh- 
produkte handelte und weil diese beiden Erwerbszweige das größte Interesse 
an der möglichst niedrigen Tarifierung der genannten Rohprodukte haben. 
Von dem Zwischenhandel gilt dasselbe nicht unbedingt; er kann durch Rück- 
sichten auf den Wettbewerb gleichartiger Handelsstätten auch ein Interesse 
an hoher Tarifierung haben. Das Wort „tunlichst“ soll auch der Möglich- 
keit einer der Verschiedenartigkeit der wirtschaftlichen Lage der einzelnen 
Bahnen entsprechenden Ungleichmäßigkeit der Tarifherabsetzung Rechnung 
tragen; vgl. die Außerung des Abg. Michaelis in der Sitzung des konst. 
Reichstags v. 1. April 1867 St. B. 505. Unter Einpfennig-Tarif ist der 
Satz von 1 F für Zentner und deutsche Meile zu verstehen; dieser Satz 
verhält sich also zu dem jetzt üblichen Tonnen-Kilometer-Satz wie 7.5:20 
oder wie 1:2 2/3. Auch Bestrebungen auf Verbilligung der Personentarife 
liegen im Rahmen des Art. 45, wie aus der allgemeinen Fassung der Ein-
	        
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