630 XII. Reichsfinanzen. Art. 69.
eine Quelle politischer Macht für die Volksvertretung. Denn die ganze
Verwaltung des Reichs spiegelt sich im Etat wieder. Die Volksvertretung
erhält hier nicht nur die Möglichkeit, die bisher getroffenen Verwaltungs-
maßregeln zu kontrollieren, sondern auch bei den für die Zukunft geplanten
Reformen mitzuwirken. Denn selbst dort, wo die Regierung grundsätzlich
freie Hand hat, z. B. bei neuen Organisationen, durch welche die bestehende
Reichsgesetzgebung nicht berührt wird, kommt sie ohne die Mitwirkung der
Volksvertretung in der Regel nicht aus, weil meistens für neue organisatorische
Maßregeln Geldausgaben erforderlich sind, die ohne etatsmäßige Bewilligung
nicht bestritten werden können. Das Budgetrecht bietet danach der Volks-
vertretung für alle Zweige der Verwaltung die Möglichkeit einer sachlichen
Kontrolle, die unter Umständen mit entscheidenden Eingriffen verbunden
ist. Für die Reichsverwaltung entspringt aus dieser Machtvollkommenheit
des Reichstags der Vorteil, daß sie von ihrer Verantwortung für den Gang
der Verwaltung und die Ausführung der Reichsgesetze dem Reichstag gegen-
über soweit entlastet wird, als der Reichstag in Ausübung seines Budget-
rechts daran teilnimmt. Durch die weitgehende Spezialisierung des Etats
wird bezweckt, dem Reichstag die Einzelheiten der Verwaltung offen zu
legen, und wenn auch sehr viele Positionen mit den bestehenden gesetzlichen
Einrichtungen derart verbunden sind, daß sie tatsächlich der Einwirkung
der Volksvertretung entgogen sind, so bleibt doch namentlich mit Rücksicht
auf alle neuen Einrichtungen, die mit Mehrausgaben verbunden find, für
die Volksvertretung ein weites Arbeitsfeld übrig, dessen reale Bedeutung
in der Möglichkeit einer sachlichen Kritik der Einzelheiten liegt, nicht darin,
daß durch Ablehnung unentbehrlicher Ausgaben die Grundlagen des Reichs
in Frage gestellt werden. Denn der Etat kann nichts anderes sein als
ein Voranschlag der voraussichtlich entstehenden Einnahmen und Ausgaben,
und wie in jedem anderen öffentlichen oder privaten wirtschaftlichen Betrieb,
für den ein Wirtschaftsplan angelegt ist, wird man der anzustellenden
Prüfung nicht gerecht, wenn man das Budget anders als vom technischen
Standpunkt aus beurteilt. Selbst da, wo Mehrausgaben nicht verlangt
werden, gibt die Bewilligung einzelner Titel, z. B. die Positionen für die
Gehälter des Reichskanzlers und seiner verantwortlichen Stellvertreter dem
Reichstag Gelegenheit, an Einzelheiten der abgelaufenen Verwaltung Kritik
zu üben. Jedoch ist auch dafür zu bemerken, daß wenn die Kritik sich nicht
auf erreichbare Reformen beschränkt, sondern die allgemeinen, durch die Gesetz-
gebung festgelegten Grundlagen der Verwaltung betrifft, sie über die aus der
Natur der Sache sich ergebenden Grenzen einer Budgetberatung hinausschießt
und daß dann sehr viel Zeit und Kraft verloren geht. Nirgends ist die Regie-
rung — Bundesrat wie Reichsverwaltung — so eingeengt wie auf finanziellem
Gebiet, nirgends ist die Macht der Volksvertretung so groß wie auf diesem
Gebiet; vgl. die Ausführungen des Fürsten Bismarck in der Reichstagssitzung
v. 22. Nov. 1875 St. B. 249. Aber nur durch eine gewisse Selbstbeschränkung,
durch Beschränkung auf die rein finanztechnischen und wirtschaftspolitischen
Gesichtspunkte kann das Parlament im Sinne der Verfassung diese Macht auf-
recht erhalten. ·
VIII. Die Bewilligung der Ausgaben.
Art. 69 bestimmt nur den Voranschlag der Einnahmen und Aus-
gaben. Von einer „Bewilligung“ der Ausgaben ist nur im Art. 71 die