636 XII. Reichsfinanzen. Art. 69.
Rücksicht auf überwiegende öffentliche Interessen von Verfassungsvorschriften —
meist nur formaler Bedeutung — abzuweichen; vgl. die Erklärung des
Unterstaatssekretärs im Reichsschatzamt Twele nach dem Bericht der Reichs-
tagskommission für den Reichshaushaltsetat v. 8. Febr. 1906; Anl. der
11. Leg.-Per. Sess. 2 Bd. 4 S. 3123 Nr. 210 a. Dabei ist auch die eigen-
tümliche Behördenorganisation der Finanzverwaltung des Reichs in Betracht
zu ziehen. Der Staatssekretär des Reichsschatzamts, dem es — abgesehen
vom Bundesrat — obliegt, entsprechend der Aufgabe, die in einem Einzel-
staat dem Finanzminister zufällt, die finanziellen Interessen des Reichs
gegenüber den anderen Ressorts zu vertreten, ist ebenso wie die anderen
Ressortchefs Stellvertreter des Reichskanzlers und kann deshalb unbedingte
Selbständigkeit und eigene Verantwortlichkeit gegenüber den anderen Ressorts
nicht in Anspruch nehmen.
XI. Die Sachlage bei dem Scheitern des Etatsgesetzes.
Die Reichsverfassung setzt voraus, daß ein Etatsgesetz zustande kommt.
Für den Fall, daß dies nicht geschieht, enthält sie keine Lösung. Der Abg.
Reichensperger erklärte in der Sitzung des konst. Reichstags v. 15. April
1867 St. B. 698, nachdem er der Ablehnung des Etatsgesetzes gedacht hatte:
„Wir werden nicht Verfassungsabschnitte machen, die auf der einen Seite
für den Staatsstreich und auf der anderen für die Revolution maßgebende
Normen aufstellen.“ In der Tat würde jede Entscheidung nach dieser
Richtung nur dahin lauten können, daß für den Fall des Dissenses der
eine gesetzgebende Faktor dem anderen unterworfen wird. Findet sich aber
erst eine solche Bestimmung in der Verfassung, so fehlt der Anlaß zu Kom-
promissen, welche die Grundlagen des Verfassungslebens bilden, weil, wenn
der eine gesetzgebende Faktor dem anderen seinen Willen aufzuzwingen in
der Lage ist, mit einem wechselseitigen Entgegenkommen praktisch nicht mehr
zu rechnen ist. Es bliebe dann nur übrig: entweder die absolute Monarchie
mit einer Volksvertretung, die nur beratende Stimme hat, oder ein parla-
mentarisches Regierungssystem, bei dem es nur das Parlament ist, das
regiert, während die Regierung, aus seiner jeweiligen Mehrheit gebildet
und von dieser Mehrheit abhängig, nichts anderes als der geschäftsführende
Ausschuß des Parlaments ist; vgl. Art. 17 VId S. 366 f. Um beide Extreme
zu vermeiden, blieb nur der Weg übrig, den die Reichsverfassung nach dem
Vorgang der preußischen Verfassung eingeschlagen hat: Regierung und
Volksvertretung — Bundesrat und Reichstag — in Ansehung der Gesetz-
gebung gleichberechtigt neben einander zu stellen und sie damit auf den Weg
des Kompromisses zu verweisen; vgl. Art. 5 A 3# S. 181ff. Man kann des-
halb nicht von einer Rechtslage sprechen, die eintritt, wenn das Etatsgesetz
nicht zustande kommt, sondern nur von einer tatsächlichen Lage. Die reichs-
eigenen Einnahmen fließen weiter in die Reichskasse. Denn das Publikum
entrichtet nicht auf Grund des Etats, sondern auf Grund der die Abgaben-
Verpflichtung statuierenden Reichsgesetze, Zolltarife und Handelsverträge
nach wie vor die Zölle, indirekten Steuern und sonstigen Abgaben, die
Einzelstaaten erheben und verwalten sie nach Maßgabe des Art. 36 R.V.
und der entsprechenden späteren Reichsgesetze und führen auf Grund dieser
Gesetze, deren Rechtsgültigkeit durch das Scheitern des Etatsgesetzes nicht
berührt wird, die Einnahmen an die Reichskasse ab; ebenso der Abg. Frieden-