XII. Reichsfinanzen. Art. 70. 641
die nach dem Zentrumsführer Leges Lieber genannt und je nur auf ein Jahr
erlassen wurden, beruhten sämtlich auf der Voraussetzung, daß die Überweisungen
die Matrikularbeiträge übersteigen würden, und wurden von selbst hinfällig,
als diese Voraussetzung nicht mehr zutraf. Die Gesetze sollten verhindern,
daß die Einzelstaaten zu Lasten der Vermehrung von Reichsschulden uber-
weisungs--Überschüsse vom Reich erhielten, andererseits sollten aber die
Matrikularbeiträge auch nicht indirekt zur Tilgung von Reichsschulden
verwendet werden; vielmehr sollte durch diese Gesetze die Schuldentilgung
verstärkt und dadurch, daß die Finanzwirtschaft mehrerer Rechnungsjahre
mit einander verbunden wurde, ein möglichst weitgehender Ausgleich zwischen
überweisungen und Matrikularbeiträgen herbeigeführt werden. Derselben
Tendenz entsprach es, daß in diesen Jahren schon bei der Etatsaufstellung
die möglichste Einschränkung der Spannung zwischen überweisungen und
Matrikularbeiträgen erstrebt wurde; es wurde daran festgehalten, daß bei
der Aufstellung des Etats die Summe der durch Uberweisungen nicht
gedeckten Matrikularbeiträge auf höchstens 24 Millionen Mark zu bestimmen
war. Für das Jahr 1903 ergab die Durchführung dieses Prinzips allerdings,
daß der Etat bei den laufenden Ausgaben ein Defizit von 72,1 Millionen
Mark aufwies, das durch eine Zuschußanleihe gedeckt wurde. Im Hinblick
hierauf wurde unter d. 28. März 1903 R. G. Bl. S. 109 eine neue Lex
Lieber erlassen, die insofern noch weiter als ihre Vorgängerinnen ging, als
danach sämtliche Mehrerträge, die sich rechnungsmäßig aus den überweisungen
gegenüber dem Etatsanschlage ergaben, für die Jahre 1902, 1903 und
nötigenfalls auch für die folgenden Jahre zur Tilgung der für 1903 erforder-
lichen Zuschußanleihe von 72 Millionen Mark verwendet werden mußten.
Im Jahre 1904 half man sich dadurch, daß ein sehr erheblicher Ausgaben-
betrag, nämlich die Kosten für die Ergänzung und Bewaffnung des Heeres
mit einem Gesamtbetrage von 46 ¼ Millionen Mark einschließlich der
bayrischen Quote für den Etat von 1905 in das Extraordinarium und
damit auf den Weg der Anleihe verwiesen wurden, während sie nach den
im Jahre 1901 aufgestellten Grundsätzen vom Ordinarium hätten getragen
werden müssen; vgl. die Erklärung des Staatssekretärs des Reichsschatzamts
Frhr. v. Stengel in der Reichstagssitzung v. 3. Dez. 1904 St. B. 3335 B.
In allen diesen Leges Lieber lag bereits eine Reform der Franckenstein-
schen Klausel. Denn da sie die Überschüfse der Uberweisungen oder wenigstens
einen Teil davon den Einzelstaaten vorenthielten, um die Anleihen, nament-
lich die reinen Defizitanleihen des Reichs, die in diesem Jahre entstanden
waren, zu decken, und da die in dieser Zeit ausgenommenen Anleihen des
Reichs vielfach zur Deckung von Ausgaben dienten, die aus den laufenden
Einnahmen hätten bestritten werden müssen, so war das Ergebnis, daß das
Reich tatsächlich an den Überschüssen, die nach der Franckensteinschen Klausel
den Einzelstaaten gebührten, teilnahm, und zwar — wirtschaftlich be-
trachtet — zur Deckung seiner laufenden Ausgaben; vgl. Schwarz und
Strutz III S. 124 ff.
Klare Verhältnisse brachte erst das in Fortsetzung dieser Tendenz er-
lassene Gesetz betr. Anderungen im Finanzwesen des Reichs v. 14. Mai 1904
R.G. Bl. S. 164, die sogen. kleine Lex Stengel, die im 8 2 die neue Fassung
des Art. 70 R.V. und im § 1 die Aufhebung der Franckensteinschen Klausel
bestimmte. Die Überweisungen waren nach dem Ges. v. 14. Mai 1904
Dambitsch, Deutsche Reichsverfassung. 41