XII. Reichsfinanzen. Art. 70. 647
b) Die politische Bedeutung der Matrikularbeiträge.
Das Reich ist zwar, da seine eigenen Einnahmen zur Bestreitung der
Ausgaben nicht zureichen, im Verhältnis zu den Einzelstaaten finanziell.
nicht selbständig, aber bei genauer Anwendung des Art. 70 kennt das Reich
kein Defizit: denn soweit seine finanziellen Mittel nicht zureichen, find nach
Art. 70 die Einzelstaaten zahlungspflichtig; vgl. die Erklärungen des Fürsten
Bismarck in den Reichstagssitzungen v. 10. März 1877 St.B. 72 und
v. 1. Dez. 1884 St. B. 143. Hierbei kommt in Betracht, daß nach Art. 73
R. V. auch in Fällen eines außerordentlichen Bedürfnisses, also für das
Extraordinarium eine Anleihe zwar ausgenommen werden kann, aber nicht
aufgenommen werden muß. Denn verfassungsgemäß würde das Reich
auch für diese Bedürfnisse die Deckung durch Matrikularbeiträge fordern
können. Durch die neue Fassung des Art. 70 ist diese Rechtslage nur
so weit geändert, daß nach Art. 70 Abs. 2 für das Extraordinarium in erster
Reihe etwaige Uberschüsse aus den Vorjahren verwendet werden müssen;
damit ist die Verwendung ungedeckter Matrikularbeiträge für das Extra-
ordinarium nur solange ausgeschlossen, als Überschüsse aus den Vorjahren
vorhanden sind. Natürlich wäre eine Belastung der Einzelstaaten mit
ungedeckten Matrikularbeiträgen zur Bestreitung des Extraordinariums
unbillig und praktisch ist sie so gut wie ausgeschlossen, aber staatsrechtlich
bleibt sie möglich und deshalb ist das Bismarcksche Wort, daß das Reich
kein Defizit haben kann, auch in Ansehung des Extraordinariums richtig.
Politisch ist dies bedeutungsvoll, weil die Verbündeten Regierungen im
Hinblick auf die theoretische Unbegrenztheit der Matrikularbeiträge nie darauf
angewiesen sind, um jeden Preis neue Steuerbewilligungen oder Anleihen
beim Reichstage durchsetzen zu müssen; sie können äußersten Falls stets auf
die Matrikularbeiträge zurückgehen.
Die konstitutionelle Bedeutung der Matrikularbeiträge für die Macht-
stellung des Reichstags darf nicht überschätzt werden. Die Frage wurde
namentlich bei der Einführung der Franckensteinschen Klausel im Reichstag
viel erörtert; man ging davon aus, daß die anderen Einnahmen des Reichs
durch die Gesetzgebung festständen, die Matrikularbeiträge aber alljährlich
bewilligt werden müßten und daß deshalb nur in den Matrikularbeiträgen
ein Einnahmebewilligungsrecht des Reichstags zum Ausdruck käme, das ver-
loren gehen würde, wenn infolge der Mehreinnahmen, die damals in Aus-
sicht standen, das Bedürfnis nach Matrikularbeiträgen aufhören würde. Es
ist nicht zu bestreiten, daß die Franckensteinsche Klausel, deren Prinzip in
nur quantitativ vermindertem Grade auch jetzt noch aufrecht erhalten ist,
an sich geeignet ist, gegenüber den vermehrten Reichseinnahmen in konstitu-
tioneller Hinsicht den status qduo ante aufrecht zu erhalten; vgl. Fürst
Bismarck in der Reichstagssitzung v. 9. Juli 1879 St. B. 2194. Freilich
gilt dies mehr formell als materiell, da, wenn der Reichstag erst die Aus-
gaben bewilligt hat, die Bewilligung der Matrikularbeiträge nichts als ein
Rechenexempel ist; vgl. Fürst Bismarck in der Reichstagssitzung v. 15. Juli
1879 St. B. 2193, Abg. Bassermann in der Reichstagssitzung v. 10. Jan. 1902
St. B. 32578, Laband IV S. 477 A. 2, v. Seydel S. 390 und oben Art. 69
S. 682 f. (Auch für den Fall des Scheiterns des Etatsgesetzes kommt den
Matrikularbeiträgen eine besondere konstitutionelle Bedeutung nicht zu, val.