650 XII. Reichsfinanzen. Art. 70.
Die Matrikular-Zuschußpflicht der Einzelstaaten erstreckt sich auf das
Ordinarium und auf das Extraordinarium verfafsungsrechtlich in gleicher
Weise, abgesehen davon, daß nach der auf dem Ges. v. 1904 beruhenden
Bestimmung des Art. 70 Abs. 2 etwaige Uberschüsse aus den Vorjahren
zur Deckung des Extraordinariums verwendet werden müssen, wenn das
Etatsgesetz nichts anderes bestimmt. Dadurch wird das Extraordinarium
entlastet und mittelbar auch die Matrikularbeitragspflicht ermäßigt. Tat-
sächlich wird mit Rücksicht auf die Finanzlage des Reichs das Extraordinarium,
soweit ihm nicht kraft Gesetzes besondere Fonds, z. B. Erträge für veräußerte
Grundstücke des Reichs zustatten kommen, regelmäßig aus Anleihen bestritten.
Doch ist dies keine verfassungsrechtliche Notwendigkeit, da im Art. 73 R.V.
der Weg der Reichsanleihe für die Fälle eines „außerordentlichen Bedürf-
nisses“ — ein Begriff, der keinesfalls weiter reicht als der des Extra-
ordinariums — durch das Wort „kann“ nur fakultativ zugelassen ist. In
dem für die Neufassung des Art. 70 vorgelegten Regierungsentwurf des
Gesetzes von 1904 lautete der Eingang des 1. Satzes: „Zur Bestreitung
aller gemeinschaftlichen ordentlichen Ausgaben“ . . Das Wort „ordent-
liche“ wurde vom Reichstag bei der Kommissionsberatung gestrichen. Der
Staatssekretär des Reichsschatzamts hob wiederholt hervor, daß diese Strei-
chung keine sachliche, sondern nur redaktionelle Bedeutung haben könne,
das Wort sollte nur den Gegenstand zu den im Abs. 2 des Art. 70 be-
handelten „außerordentlichen"“ Ausgaben bezeichnen; vgl. Reichstagssitzung
v. 7. Mai 1904 St.B. 2760 und Kommissionsbericht v. 5. Mai 1904 Anl.
der 11. Leg.-Per. Sess. 1 Bd. 3 S. 2345. Daraus ist nichts gegen die
hier vertretene Ansicht zu schließen. Auch die Fassung des Regierungs-
entwurfs hätte nicht die Folge haben können, die Matrikularpflicht für
außerordentliche Ausgaben auszuschließen. Denn dann wäre auch die Ver-
wendung der im 1. Satz des Art. 70 bezeichneten eigenen Einnahmen des
Reichs für diesen Zweck ausgeschlossen gewesen, eine Konsequenz, die gewiß
nicht im Willen der Reichsverwaltung lag, und andererseits hätte sich eine
Unstimmigkeit zu Art. 73 ergeben, wo der Weg der Anleihe nur als fakul-
tativ bezeichnet ist. Es hat sich also insofern die Rechtslage gegen früher
nicht geändert. Wenn der Frhr. v. Stengel als Bundesratsbevollmächtigter für
Bayern diesen Standpunkt auch für die frühere Rechtslage in der Reichs-
tagssitzung v. 21. März 1901 St.B. 2109 bestritten hat, so können seine
Ausführungen nur auf die tatsächliche Praxis, nicht auf die verfassungs-
mäßige Rechtslage bezogen werden; übrigens hat auch er nach dem Bericht
der Reichstagskommission für den Reichshaushaltsetat v. 5. Mai 1904 Anl.
der 11. Leg.-Per. Sess. 1 Bd. 3 S. 2345 anerkannt, daß die Deckung außer-
ordentlicher Ausgaben durch Einnahmen des ordentlichen Etats möglich
und tatsächlich schon geschehen sei, da durch Abstriche ersparte Summen als
Zuschuß zu den außerordentlichen Ausgaben eingestellt wurden.
d) Die Ausschreibung der Matrikularbeiträge durch den Reichskanzler.
Die Bestimmung über die Ausschreibung der Matrikularbeiträge durch
den Reichskanzler unter Einschränkung auf den budgetmäßigen Betrag be-
deutet, daß, ungeachtet der durch Art. 70 begründeten Verpflichtung der
Einzelstaaten, das ganze nach Verwendung der eigenen Einnahmen des
Reichs übrig bleibende Defizit zu decken, die Matrikularbeiträge nur in der