XIII. Schlichtung von Streitigkeiten u. Strafbestimmungen. Art. 76. 669
I. Zur Vorgeschichte des Art. 76.
Art. 76 soll eine Garantie dafür geben, daß auch in Streitfällen der
Landfrieden unter den Bundesstaaten gewahrt bleibt, daß niemals Mittel
der Selbsthilfe und insbesondere nicht kriegerische Mittel angewendet werden.
Die Bestimmung hat ihr Vorbild in der Deutschen Bundesakte v. 8. Juni
1815, wo durch Art. 11 Abs. 4 festgesetzt ist:
„Daß die Bundesglieder sich verbindlich machen, einander unter
keinerlei Vorwand zu bekriegen, noch ihre Streitigkeiten mit Gewalt zu
verfolgen, sondern sie bei der Bundesversammlung anzubringen, welcher
alsdann obliege, die Vermittelung durch einen Ausschuß zu versuchen,
falls aber dieser Versuch fehlschlagen sollte und demnach eine richterliche
Entscheidung notwendig würde, solche durch eine wohlgeordnete Austrägal-
instanz zu bewirken, deren Ausspruch die streitenden Teile sich sofort zu
unterwerfen haben..
Im Verlauf der Verhandlungen über die Ausführung dieser Be-
stimmung kam der Bundesbeschluß v. 16. Juni 1817 über „die Bundes-
vermittelungs= und Austrägal-Ordnung in Streitigkeiten von Bundesgliedern
unter sich“ zustande. Dieser Beschluß wurde, nachdem in der Wiener
Ministerial-Konferenz von 1820 der Antrag auf Einrichtung eines perma-
nenten Bundesgerichts abgelehnt worden war, in der Wiener Schlußakte
v. 15. Mai 1820 aufrecht erhalten. Das Verfahren vor dem Austrägal-
gericht wurde durch einen weiteren Beschluß der Bundesversammlung v.
3. August 1820 geregelt und gleichzeitig die auf Grund des Art. 31 der
Wiener Schlußakte angenommene Exekutionsordnung auch für die Vollziehung
austrägalgerichtlicher Erkenntnisse anwendbar erklärt. Endlich enthielt die
Wiener Schlußakte in den Art. 19 — 22 Bestimmungen über die Befugnisse
der Bundesversammlung zur Verhütung von Tätlichkeiten und zur Aufrecht-
erhaltung des Besitzstandes im Interesse der Verhütung tatsächlicher Selbst-
hilfe unter den Bundesgliedern. Art. 24 der Wiener Schlußakte bestimmte,
daß es den Bundesgliedern freistehe, „sowohl bei einzelnen vorkommenden
Streitigkeiten als für alle künftigen Fälle wegen besonderer Austräge und
Kompromisse übereinzukommen, und daß auch frühere Familien= und Ver-
tragsausträge durch Errichtung der Bundes-Austrägalinstanz nicht aufgehoben
noch abgeändert sein sollten“; vgl. v. Rönne ! S. 218. Die letztere Be-
stimmung ist für das geltende Recht insofern von besonderem Interesse, als
sie auch dem gegenwärtigen Rechtszustand entspricht. Natürlich kann die
Wiener Schlußakte in keinem Punkte mehr als unmittelbar geltendes Recht
angesehen werden, aber da die Reichsverfassung sowohl das für die Er-
ledigung von staatsrechtlichen Streitigkeiten zwischen zwei Bundesstaaten
wie von Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines und desselben Bundes-
staats vorgeschriebene Verfahren nur auf Anrufen des einen Teils eintreten
läßt, so ergibt sich, daß für das Verfahren, das eingeschlagen werden kann,
wenn beide Teile darauf verzichten, den Bundesrat anzurufen, die Reichs-
verfassung keine pofitive Bestimmung enthält, und hieraus geht der Natur
der Sache nach hervor, daß es wie unter der Herrschaft der Wiener Schluß-
akte auch jetzt jedem Bundesstaat unbenommen bleibt, mit seinem Gegner
die Erledigung eines Streits im Wege des Kompromisses, z. B. mittels
eines durch Kompromiß eingesetzten Schiedsgerichtes zu vereinbaren. Dies