674 XIII. Schlichtung von Streitigkeiten u. Strafbestimmungen. Art. 76.
b) Die Antragsberechtigung.
Daraus, daß als Verfassungsstreit im Sinne des Art. 76 Abs. 2 N.V.
nur ein Streit zwischen Regierung und Volksvertretung anzusehen ist, er-
gibt sich, daß zum Antrage auf Entscheidung des Bundesrats nur die
Regierung und die Volksvertretung berufen find. Kein Dritter, mag es
eine Privatperson oder ein öffentlicher Verband sein, ist berechtigt, die
Interessen der Volksvertretung oder der Regierung in einer solchen An-
gelegenheit dem Bundesrat gegenüber wahrzunehmen. Der Bundesrat tritt
nur auf Anrufen ein. Auch im Falle einer Verfassungsstreitigkeit und
selbst wenn eine zur Entscheidung solcher Streitigkeiten kompetente Behörde
nicht vorhanden ist, bleibt es den streitenden Teilen überlassen, irgend einen
anderen Weg, z. B. die Entscheidung durch ein Schiedsgericht zu wählen.
Doch gilt dies nur, wenn es sich um reine Landesangelegenheiten handelt.
Bei Angelegenheiten, auf die sich das Aufsichtsrecht des Reichs erstreckt,
schreitet das Reich von Amtswegen ein, aber dann nicht auf Grund des
Art. 76, sondern gemäß Art. 7, 17, 19 R.V.
c) Die Erledigung im Wege des gütlichen Ausgleichs.
In der Wahl der Mittel, die zur Herbeiführung eines gütlichen Aus-
gleichs anzuwenden sind, hat der Bundesrat freie Hand; in der Regel wird
die Geltendmachung der moralischen Autorität genügen. Billigt der Bundes-
rat den Standpunkt nicht, den die betreffende Regierung in der Verfassungs-
frage vertritt, so ist anzunehmen, daß die Regierung es nicht erst auf eine
Entscheidung im Wege der Reichsgesetzgebung ankommen lassen wird. Er-
kennt er aber die Haltung der Regierung als richtig an, so liegt darin
für die Regierung eine starke moralische Unterstützung, deren Wirkung die
Volksvertretung sich nicht leicht entziehen wird. Der Ausgleich kann sich
dann so vollziehen, daß zwischen Regierung und Volksvertretung eine über-
einkunft vermittelt wird, entweder in der Form, daß beide Faktoren sich
über eine authentische Interpretation oder Änderung der Landesverfassung
einigen oder, wenn die Bedeutung der Frage in dem einzelnen Fall sich
erschöpft, auch ohne gesetzgeberische Aktion eine übereinstimmende Auf-
fassung annehmen.
d) Die Erledigung im Wege der Reichsgesetzgebung.
Wenn der Versuch eines gütlichen Ausgleichs mißlingt, so ist der
Streit im Wege der Reichsgesetzgebung zur Erledigung zu bringen. Zur
Begründung dieser Bestimmung bemerkte im konst. Reichstage (Sitzung v.
9. April 1867 St.B. 665) der Bundeskommissar v. Savigny, daß man
Streitfragen dieser Art wegen ihres politischen Gehalts nicht einer richter-
lichen Behörde habe überweisen wollen. Der Abg. Reichensperger (St.B.
658) führte dagegen aus, daß es sich dann nicht mehr um ein Urteil, sondern
um eine politische Maßregel handele und nannte es einen Staatsstreich,
wenn von politischen Gesichtspunkten aus eine streitige Verfassungsfrage ge-
löst werden soll. Darin liegt eine Übertreibung. Es gibt viele Fragen
des Staatsrechts, aus denen Verfassungsstreitigkeiten erwachsen können und
denen sich juristische Gesichtspunkte überhaupt nicht abgewinnen lassen, bei