XIV. Allgemeine Bestimmungen. Art. 78. 683
Praxis im allgemeinen nicht befolgt worden. Notwendig ist es jedesfalls
nicht; denn daß ein solches Gesetz im Bundesrat mit der verfassungsmäßigen
Mehrheit angenommen ist, darf vermutet werden; ebenso das Reichsgericht
(III. Cs. Bd. 48 S. 84 in einer Entsch. v. 26. März 1901).
III. Berfassungsänderungen im Bundesrat.
Verfassungsänderungen kommen auf dem gewöhnlichen Wege der Reichs-
gesetzgebung zustande, nur ist im Bundesrat eine erhöhte Mehrheit not-
wendig. Mangels einer abweichenden Bestimmung gilt für die Abstimmung
im Bundesrat die allgemeine Regel des Art. 7, daß nicht vertretene und
nicht instruierte Stimmen nicht gezählt werden. In der Verfassung des
Norddeutschen Bundes war eine Zweidrittel--Majorität vorgesehen. In den
mit Baden, Hessen und Württemberg geschlossenen Verträgen (B.G. Bl. 1870
S. 650 ff.) wurde die erforderliche Mehrheit auf Dreiviertel festgesetzt. Im
Bündnisvertrage mit Bayern B. G. B. 1871 S. 9 wurde dagegen der Abs. 1
des Art. 78 in seiner jetzt geltenden Form gefaßt und ging so in die
Reichsverfassung über. Nach der Erklärung des Präsidenten Delbrück (Reichs-
tagssitzung v. 8. Dez. 1870 St. B. 143) stellte diese neue Fassung ein
Kompromiß dar mit Rücksicht darauf, daß Bayern ursprünglich gegenüber
gewissen Verfassungsänderungen, namentlich gegenüber Kompetenzerweite-
rungen ein Veto beansprucht hatte. Im Verhältnis zur Dreiviertel-Majori-
tät liegt in der geltenden Fassung nur eine unbedeuteude Erschwerung der
Verfassungsänderung. Denn wenn alle Stimmen gültig abgegeben werden,
so war früher eine Mehrheit von mindestens 44 Stimmen notwendig,
während jetzt eine Mehrheit von mindestens 45 Stimmen erforderlich ist.
Wenn aber z. B. nur 40 gültige Stimmen abgegeben werden, so war
früher eine Mehrheit von mindestens 30 Stimmen erforderlich, während
jetzt schon eine Mehrheit von 27 Stimmen genügt.
Wegen der Abstimmung über die Vorfrage, ob eine Verfassungs-
änderung vorliegt, vgl. Art. 7 B II S. 235ff. Dem Reichstag, wie überhaupt
der Offentlichkeit gegenüber stellt die Frage, welchen Abstimmungsmodus der
Bundesrat anzuwenden hat, eine innere Angelegenheit des Bundesrats dar.
Die Abstimmung des Bundesrats ist geheim, und es besteht keine Verpflich-
tung für ihn, hierüber Auskunft zu geben.
Wenn es sich um die Aufhebung oder Abänderung der verfassung-
ändernden Spezialgesetze handelt, so stehen diejenigen Gesetze, die in den
Text der Verfassungsurkunde selbst ausgenommen sind, selbstverständlich unter
der allgemeinen Regel des Art. 78; ebenso Laband Il S. 33, v. Rönne II 1
S. 35, v. Mohl Deutsches Reichsstaatsrecht S. 185. Dagegen kann es bei
den anderen Gesetzen zweifelhaft sein. Richtiger Ansicht nach, die u. a. von
Laband II S. 37 vertreten, von Zorn I S. 433 und Hänel Studien 1 S. 255
bestritten wird, bedarf es in solchen Fällen der durch Art. 78 vorgeschriebenen
Mehrheit des Bundesrats für die Abänderung nicht. Durch den Wortlaut
des Art. 78 wird man zu dieser materiell allerdings wenig begründeten
Unterscheidung genötigt. Denn unter Verfassung im Sinne des Art. 78
kann nur die Verfassungsurkunde selbst verstanden werden, nicht aber auch
außerhalb der Verfassungsurkunde vorhandene Reichsgesetze, mag auch deren
Bedeutung im Sinne einer Modifikation des ursprünglichen Verfassungsinhalts
noch so groß sein.