Vierter Teil.
Die Landesverwaltung.
Erster Abschnitt. Die allgemeinen Grundlagen.
ʒ 48. Allgemeines. I. Unter Verwaltung im weiteren Sinne versteht man die gesamte
Tätigkeit, die der Staat im Interesse der Verwirklichung des Staatszweckes unternimmt. Man hat
die Verwaltung von den übrigen staatlichen Funktionen dadurch zu unterscheiden gesucht, daß man
sagte!1, zum Gebiete der Verwaltung gehörten alle jene Angelegenheiten, die nicht nach festen Rechts-
normen, sondern nach dem freien Ermessen der Behörden zu erledigen seien. Indessen ist die Ansicht,
daß das „freie Ermessen“ ein Kriterium der Verwaltuug im Gegensatz zu der an das Gesetz gebundenen
Justiz sei, eine irrtümliche2. Das Gesetz gilt gleichmäßig für die Justiz und die Verwaltung.
Auch die Gerichte kommen in die Lage, innerhalb eines bestimmten gesetzlichen Rahmens nach
freiem Ermessen zu handeln, z. B. eine Unterhaltsrente, eine Schadensersatzsumme nach freier
Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände festzusetzen 32. Andererseits sind, wie bereits hervor-
gehoben, auch dem freien Ermessen der Verwaltungsbehörden Schranken gezogen: es soll darunter
auch nur das verstanden werden, was der wohlverstandene Wille des Gesetzes ist (O. Mayer). Eine
andere Auslegung des Begriffes „freies Ermessen“ wäre gleichbedeutend mit Ermessen smißbrauch“",
gegen welchen das französische öffentliche Recht in dem recours pour excès de pouvoir (Rechts-
mittel wegen Machtüberschreitung) ein Rechtsmittel an den Staatsrat gegeben hat S. Nur dadurch
wird die sogenannte Prärogative der Verwaltung (d. h. die Vollstreckbarkeit der Verwaltungsakte
ohne vorangehenden Richterspruch) im Rechtsstaat überhaupt erträglich. Gebundenheit an die Ge-
setze und allenfalsige Schadensersatzpflicht sind die beiden Korrektive der Verwaltungsvorrechte .
8 49. Die Formen der Berwaltungsakte. 1. Die Verwaltung ist staatliche Geschäfts-
führung. Um diese zu bewerkstelligen, muß der Staat in Beziehungen zu Dritten treten. Es geschieht
dies durch Verträge und Verfügungen 1.
(5 481 1 Vgl. hierzu Fleiner S. 6.
« 2Vterhau»s,GerichtsbarkeitundBerwaltungöhoheit,Verwaltungsarchiv11S.223f.
Val. auch F. Stein, Grenzen und Beziehungen zwischen Justiz und Verwaltung; O. Mayer,
Justiz und Verwaltung 1902; Kormann, Jahrb. des öff. Rechts 1913 S. 1f.
* Man denke ferder an die Tätigkeit des Vormundschaftsrichters bei der Entmündigung und
Wiederaufhebung derselben usw.
*" v. Laun, Das freie Ermessen und seine Grenzen. Dieses „gebundene"“ Ermessen, das
die Verwaltungsbehörde z. B. handhabt, wenn sie Begriffe wie Gefahr, Bedürfnis usw. auslegt, ist
zu unterscheiden von dem eigentlichen „freien“ Ermessen, bei welchem das Gesct gar keine Anhalts-
punkte gibt, z. B. bei der Vergebung von Lieferungen, Beamtenernennung usw. Das gebundene
Ermessen unterliegt der verwaltungsgerichtlichen Nachprüfung, das eigentliche freie Ermessen da-
gegen nicht. Vgl. Stier-Somlo, Das freie Ermessen in Rechtsprechung und Verwaltung.
5 Der bedeutsamste der unter diesem Begriff zusammengefaßten Ansechtungsgründe ist die Be-
hauptung des détournement de pouvoir, b. h. die Aufstellung, die Behörde habe den Verwaltungsakt
aus Motiven erlassen, aus denen sie den betreffenden Akt nicht hätte erlassen dürfen. Die Formel des
französischen Staatsrats lautet: „a usé de son pouvoir discrétionnaire dans un but et pour des
motifs autres dque ceux en vue desquels ce pouvoir lui a été attribué.“ Vgl. Hauriou,
Précis. 7, A. (1911) S. 452. Akte, die sonach gegen die positive Ermächtigungsklausel der betreffenden
Behörde verstoßen, sind rechtsungültig. So hat der Staatsrat (v. 3. Juni 1893) eine Enteignung
für rechtsungültig erklärt, weil sie nicht wirklich, sondern nur angeblich im öffentlichen Interesse
verfügt war; er hat damit über die schwierige Frage entschieden, ob die Verwaltungsgerichte auch
dußerlich korrekt erlassene Ermessensakte auf die wahren Motive hin untersuchen und eventuell auf-
heben dürfen („si le motif d'’utilité public est déclaré mensonger“).
6 Val. M. Hauriou, La gestion administrative, 1899, und Derfelbe, Précis de droit
administratif, 7. A., 1911.
(§ 491 1 Laband II, S. 192. Von der Entscheidung unterscheidet sich die Verfügung dadurch, daß
jene ausschließlich durch Rechtssätze, diese dagegen auch durch Zweckmäßigkeitsgründe gerechtfertigt
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