Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

  
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Belagerungszustand 
  
Treitschke (Politik 1, 162) und Reinach (8S 2090, 
291) überein, und bewegt sich die Staatspraxis in 
Ländern, deren Verfassung das Institut des B. 
nicht erwähnt (Italien; abgelehnt allerdings für 
Belgien: Errera, Belgisches Staatsrecht S 3). 
Das Außerordentliche in der Befugnis hebt sich 
nur bei dem konstitutionellen Staate mit seiner 
grundsätzlichen Scheidung der Staatsgewalten 
einerseits und seiner Formulierung der Rechte der 
Untertanen andrerseits scharf ab. Es ist deshalb 
bezeichnend, daß gerade in Verbindung mit der 
Aufstellung der konstitutionellen Grundsätze auch 
gewisse Abstriche in verfassungsmäßige Form ge- 
bracht sind, so schon in Frankreich 1791, in der 
NV von 1849 K5 197, in Preußen Vu à 111 (im 
übrigen vgl. unten § 3). Die Berechtigung zu 
solchen Ausnahmemitteln braucht dem Staate 
aber nicht erst zugestanden zu werden (vgl. Pözl, 
Lehrb. d. bayr. Verwechts? 1871 S 284; 
Ulbrich, Oesterr. Staatsrecht 1909 S 208). Im- 
merhin wird durch eine ausdrückliche Bestimmung 
(insbesondere über Instanzen und Verfahren) 
eine Schwierigkeit aus dem Wege geräumt. 
Ein durchgehender Unterschied macht sich übrigens 
für Anwendung und Dauer des B. in dem An- 
teile der Volksvertretung geltend: während in 
England und in Frankreich die Verhängung des 
Ausnahmezustandes grundsätzlich, in Baden u. U. 
von der Zustimmung des Parlaments abhängt, 
in Bayern und in Oesterreich bei der Anwendung 
des Standrechtes auch Justizbehörden beteiligt 
sind, ist sonst in Deutschland (abgesehen von 
Bayern, unten § 4) dem Staatsministerium (Se- 
nate), zeitweilig und beim eigentlichen Kriegs- 
zustande schlechthin auch militärischen Befehls- 
habern, die Befugnis zur Anwendung des B. 
beigelegt. 
Im einzelnen streben die Staaten das gleiche 
Ziel keineswegs in gleicher Richtung an: 
a) Fast durchgängig ist als Folge des B. eine 
Einschränkunggewisser Freiheits- 
rechte vorgesehen (für Deutschland vgl. §§ 2, 3; 
Oesterreich, Frankreich, England); dazu kann in 
Deutschland mehrfach eine Verschärfung 
der Strafsatzungen treten (Reich, Preu- 
ßen, Sachsen, früher Baden, Anhalt) oder eine 
beschleunigte Aburteilung vor den ordentlichen 
Gerichten (Oesterreich). Diese Maßnahmen als 
„Zivildiktatur“ stellt man der 
b) „Militärdiktatur“ gegenüber, bei 
der die Leitung der vollziehenden Ge- 
walt auf Militärorgane übergeht 
(Reich, Elsaß-Lothringen, Preußen, Sachsen, 
früher Baden, Anhalt; Frankreich) — hierin liegt 
das Markante des B. — zum Teil aber auch die 
Aburteilung gewisser Delikte in beschleunigtem 
Gange besonderen aus Militär= und Zivilbeamten 
gemischten Ausnahmegerichten, sog. Kriegs- 
gerichten (,Standrecht“) zugewicsen werden 
kann (Reich, Preußen, Bayern, Sachsen, früher 
Baden, Anhalt), in Frankreich geradezu den 
Militärgerichten. 
Für das deutsche Recht ist die Regelung unzu- 
länglich, für das Reich sowohl wie für die Glied- 
staaten (§§ 2—4) und die Kolonien (§ 6). 
Ueber den sog. Kleinen Belagerungs- 
zustand vgl. § 2 am Ende, § 3 Bla. E. 
Nebenwirkungen des B. wie Gerichtsstillstand, 
Einfuhrverbote, Ablehnung der Haftpflicht seitens 
  
der Postverwaltung, Möglichkeit eines Nottesta- 
ments u. dgl. sind dem B. nicht eigentümlich, eben- 
sowenig wie z. B. die typischen Klauseln in Ver- 
sicherungsverträgen, die eine Haftung für Schäden 
ablehnen, die nach Erklärung des Kriegszustandes 
von dem Militärbefehlshaber angeordnet werden. 
##2. Belagerungszustand von Reichs wegen 
(à 68 RV „Kriegszustand“). — 1. Daß das Reich den 
B. verhängen kann, folgt aus dem Wesen des 
Bundesstaats. Bayern ist jedoch von dem Macht- 
bereiche ausgenommen (unten § 4). Solange ein 
besonderes Reichsgesetz nicht erlassen ist, gilt das 
preußische G v. 4. 6. 51. Das Gesetz ist dadurch 
zwar nicht (aM Bornhak, Haldy) der Abänderung 
in Preußen entzogen; eine Aenderung würde nur 
den Zustand für das Reich nicht berühren. Der 
Ausschub einer reichsgesetzlichen Regelung hat 
nicht geringe Zweifel im Gefolge, da neben dem 
preußischen Gesetze das Verfassungsrecht des 
Reiches einwirkt, da das Gesetz von 1851 selbst 
nicht genügend klar ist und eine sinngemäße 
Uebertragung auf die Verhältnisse des Reiches an 
sich Schwierigkeiten bietet, zumal nach den organi- 
satorischen Aenderungen in der Militärgerichts- 
barkeit, da endlich das Verhältnis zu der Straf- 
gesetzgebung des Reiches mannigfacher Auslegung 
unterworfen ist (vgl. auch Begr des Entw für 
Elsaß-Lothringen, Reichstags-Drucksachen 1892 
Band VI S3824). Kaum ein Satz ist unbestritten. 
a) Die Erklärung des „Kriegszustandes“ ist 
dem Kaiser übertragen. Eine Delegation er- 
scheint bei der Art des Eingriffs im Friedensstande 
nicht zulässig (anders Arndt), wofür auch das 
Verhalten bei Erlaß des Gesetzes für Elsaß-Loth- 
ringen spricht. Für den Kriegsfall möchte aus der 
hier verfassungsmäßig freien Stellung des Kaisers 
die Uebertragung statthaft erscheinen (z. T. ge- 
schehen in der kaiserl. Instr. v. 22. 7. 70 für die 
Generalgouverneure). Die kaiserliche Anordnung 
bedarf der Gegenzeichnung (aM Zorn, Haldy), da 
es sich nicht um einen Akt des Oberbefehls, son- 
dern um eine Maßnahme der Sicherheitspolizei 
handelt, (oben & 1) und der Verkündung im Reichs- 
gesetzblatte. Außerdem aber sind die Formen des 
preußischen Gesetzes zu beachten (unten §5 3 B1). 
b) Voraussetzung ist nicht schon jede Be- 
drohung der öffentlichen Sicherheit in einem 
Teile des Reichsgebiets, sondern, wie es näher im 
preuß. Gesetze umgrenzt ist: der Fall eines Krie- 
ges oder eines mit dringender Gefahr verbunde- 
nen Aufruhrs im Sinne des allgemeinen Sprach= 
gebrauchs. Nach dem Anlaß bemißt sich die räum- 
liche Erstreckung. 
c) Wirkungen: Notwendig geht die 
vollziehende Gewalt auf den Militärbefehlshaber 
über, jedoch zunächst nur in dem Umfange der Zi- 
vilorgane (unrichtig Sydow in der 1. Aufl. „Brief- 
geheimnis“ 1 246, der mit dem B. den Briesschutz 
wegfallen läßt). Er kann im Interesse der öffent- 
lichen Sicherheit auch Verbote mit Strafdrohung 
bis zu einem Jahre Gefängnis erlassen (JFobpr. G). 
Für Militärpersonen gelten die Gesetze, die für 
den Kriegszustand gegeben sind (MStGB #899 Z. 2); 
der Befehlshaber des Orts ist Gerichtsherr der 
höheren Gerichtsbarkeit (§I 20, 27 MStG). 
Im allgemeinen gilt das Martialgesetz des § 4 
EG z. St G (nicht mehr § 8 pr. G). Die Straf- 
schärfungen des §& 9 (nicht mehr d, bloß zum Teilc) 
haben nur noch insofern eine Bedeutung, als sie
	        
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