398
Belagerungszustand
Treitschke (Politik 1, 162) und Reinach (8S 2090,
291) überein, und bewegt sich die Staatspraxis in
Ländern, deren Verfassung das Institut des B.
nicht erwähnt (Italien; abgelehnt allerdings für
Belgien: Errera, Belgisches Staatsrecht S 3).
Das Außerordentliche in der Befugnis hebt sich
nur bei dem konstitutionellen Staate mit seiner
grundsätzlichen Scheidung der Staatsgewalten
einerseits und seiner Formulierung der Rechte der
Untertanen andrerseits scharf ab. Es ist deshalb
bezeichnend, daß gerade in Verbindung mit der
Aufstellung der konstitutionellen Grundsätze auch
gewisse Abstriche in verfassungsmäßige Form ge-
bracht sind, so schon in Frankreich 1791, in der
NV von 1849 K5 197, in Preußen Vu à 111 (im
übrigen vgl. unten § 3). Die Berechtigung zu
solchen Ausnahmemitteln braucht dem Staate
aber nicht erst zugestanden zu werden (vgl. Pözl,
Lehrb. d. bayr. Verwechts? 1871 S 284;
Ulbrich, Oesterr. Staatsrecht 1909 S 208). Im-
merhin wird durch eine ausdrückliche Bestimmung
(insbesondere über Instanzen und Verfahren)
eine Schwierigkeit aus dem Wege geräumt.
Ein durchgehender Unterschied macht sich übrigens
für Anwendung und Dauer des B. in dem An-
teile der Volksvertretung geltend: während in
England und in Frankreich die Verhängung des
Ausnahmezustandes grundsätzlich, in Baden u. U.
von der Zustimmung des Parlaments abhängt,
in Bayern und in Oesterreich bei der Anwendung
des Standrechtes auch Justizbehörden beteiligt
sind, ist sonst in Deutschland (abgesehen von
Bayern, unten § 4) dem Staatsministerium (Se-
nate), zeitweilig und beim eigentlichen Kriegs-
zustande schlechthin auch militärischen Befehls-
habern, die Befugnis zur Anwendung des B.
beigelegt.
Im einzelnen streben die Staaten das gleiche
Ziel keineswegs in gleicher Richtung an:
a) Fast durchgängig ist als Folge des B. eine
Einschränkunggewisser Freiheits-
rechte vorgesehen (für Deutschland vgl. §§ 2, 3;
Oesterreich, Frankreich, England); dazu kann in
Deutschland mehrfach eine Verschärfung
der Strafsatzungen treten (Reich, Preu-
ßen, Sachsen, früher Baden, Anhalt) oder eine
beschleunigte Aburteilung vor den ordentlichen
Gerichten (Oesterreich). Diese Maßnahmen als
„Zivildiktatur“ stellt man der
b) „Militärdiktatur“ gegenüber, bei
der die Leitung der vollziehenden Ge-
walt auf Militärorgane übergeht
(Reich, Elsaß-Lothringen, Preußen, Sachsen,
früher Baden, Anhalt; Frankreich) — hierin liegt
das Markante des B. — zum Teil aber auch die
Aburteilung gewisser Delikte in beschleunigtem
Gange besonderen aus Militär= und Zivilbeamten
gemischten Ausnahmegerichten, sog. Kriegs-
gerichten (,Standrecht“) zugewicsen werden
kann (Reich, Preußen, Bayern, Sachsen, früher
Baden, Anhalt), in Frankreich geradezu den
Militärgerichten.
Für das deutsche Recht ist die Regelung unzu-
länglich, für das Reich sowohl wie für die Glied-
staaten (§§ 2—4) und die Kolonien (§ 6).
Ueber den sog. Kleinen Belagerungs-
zustand vgl. § 2 am Ende, § 3 Bla. E.
Nebenwirkungen des B. wie Gerichtsstillstand,
Einfuhrverbote, Ablehnung der Haftpflicht seitens
der Postverwaltung, Möglichkeit eines Nottesta-
ments u. dgl. sind dem B. nicht eigentümlich, eben-
sowenig wie z. B. die typischen Klauseln in Ver-
sicherungsverträgen, die eine Haftung für Schäden
ablehnen, die nach Erklärung des Kriegszustandes
von dem Militärbefehlshaber angeordnet werden.
##2. Belagerungszustand von Reichs wegen
(à 68 RV „Kriegszustand“). — 1. Daß das Reich den
B. verhängen kann, folgt aus dem Wesen des
Bundesstaats. Bayern ist jedoch von dem Macht-
bereiche ausgenommen (unten § 4). Solange ein
besonderes Reichsgesetz nicht erlassen ist, gilt das
preußische G v. 4. 6. 51. Das Gesetz ist dadurch
zwar nicht (aM Bornhak, Haldy) der Abänderung
in Preußen entzogen; eine Aenderung würde nur
den Zustand für das Reich nicht berühren. Der
Ausschub einer reichsgesetzlichen Regelung hat
nicht geringe Zweifel im Gefolge, da neben dem
preußischen Gesetze das Verfassungsrecht des
Reiches einwirkt, da das Gesetz von 1851 selbst
nicht genügend klar ist und eine sinngemäße
Uebertragung auf die Verhältnisse des Reiches an
sich Schwierigkeiten bietet, zumal nach den organi-
satorischen Aenderungen in der Militärgerichts-
barkeit, da endlich das Verhältnis zu der Straf-
gesetzgebung des Reiches mannigfacher Auslegung
unterworfen ist (vgl. auch Begr des Entw für
Elsaß-Lothringen, Reichstags-Drucksachen 1892
Band VI S3824). Kaum ein Satz ist unbestritten.
a) Die Erklärung des „Kriegszustandes“ ist
dem Kaiser übertragen. Eine Delegation er-
scheint bei der Art des Eingriffs im Friedensstande
nicht zulässig (anders Arndt), wofür auch das
Verhalten bei Erlaß des Gesetzes für Elsaß-Loth-
ringen spricht. Für den Kriegsfall möchte aus der
hier verfassungsmäßig freien Stellung des Kaisers
die Uebertragung statthaft erscheinen (z. T. ge-
schehen in der kaiserl. Instr. v. 22. 7. 70 für die
Generalgouverneure). Die kaiserliche Anordnung
bedarf der Gegenzeichnung (aM Zorn, Haldy), da
es sich nicht um einen Akt des Oberbefehls, son-
dern um eine Maßnahme der Sicherheitspolizei
handelt, (oben & 1) und der Verkündung im Reichs-
gesetzblatte. Außerdem aber sind die Formen des
preußischen Gesetzes zu beachten (unten §5 3 B1).
b) Voraussetzung ist nicht schon jede Be-
drohung der öffentlichen Sicherheit in einem
Teile des Reichsgebiets, sondern, wie es näher im
preuß. Gesetze umgrenzt ist: der Fall eines Krie-
ges oder eines mit dringender Gefahr verbunde-
nen Aufruhrs im Sinne des allgemeinen Sprach=
gebrauchs. Nach dem Anlaß bemißt sich die räum-
liche Erstreckung.
c) Wirkungen: Notwendig geht die
vollziehende Gewalt auf den Militärbefehlshaber
über, jedoch zunächst nur in dem Umfange der Zi-
vilorgane (unrichtig Sydow in der 1. Aufl. „Brief-
geheimnis“ 1 246, der mit dem B. den Briesschutz
wegfallen läßt). Er kann im Interesse der öffent-
lichen Sicherheit auch Verbote mit Strafdrohung
bis zu einem Jahre Gefängnis erlassen (JFobpr. G).
Für Militärpersonen gelten die Gesetze, die für
den Kriegszustand gegeben sind (MStGB #899 Z. 2);
der Befehlshaber des Orts ist Gerichtsherr der
höheren Gerichtsbarkeit (§I 20, 27 MStG).
Im allgemeinen gilt das Martialgesetz des § 4
EG z. St G (nicht mehr § 8 pr. G). Die Straf-
schärfungen des §& 9 (nicht mehr d, bloß zum Teilc)
haben nur noch insofern eine Bedeutung, als sie