Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

  
  
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Belagerungszustand 
  
(Staatsministerium), der die Militärgewalt nicht 
zusteht und die pflichtgemäß eine selbständige 
Prüfung vorzunehmen hat. 
Bei dieser Entwicklung des Rechtszustandes wird 
man sagen müssen, daß der dem Kaiser übertra- 
gene Oberbefehl eine Befehlsgewalt der Einzel- 
staaten zu Zwecken der Sicherheitspolizei nicht 
ohne weiteres ausschließen soll, sondern nur dann, 
wenn der Einzelstaat in den Oberbefehl des 
Kaisers eingreift, was im Einzelfalle zu prüfen 
bleibt. So würde die Verhängung des B. durch 
den Kaiser eine Anordnung des Einzelstaates für 
das gleiche Gebiet ausschließen, und es würde, so- 
fern einmal mit dem B. durch den Gliedstaat das 
Reichsinteresse des Oberbefehls beeinträchtigt wer- 
den sollte, was für den Friedensstand kaum an- 
zunehmen ist, der Kaiser durch Befehl an die 
Militärinstanzen dem wehren können. 
Auch der zweite Einwand spricht nicht gegen die 
Zulassung des B. überhaupt, sondern könnte im- 
mer nur einzelnen Wirkungen des B. 
entgegengehalten werden, insoweit sie einer Be- 
stimmung des Reichsrechts widersprächen. 
Dafß die gesetzgebenden Faktoren im Reiche die 
Fortgeltung der einzelstaatlichen Normen dauernd 
voraussetzen, geht aus den Motiven zu § 5 Entw 
des GVG und aus der Begründung des Gesetz- 
entw für Elsaß-Lothringen 1892 (Reichstag StBer 
4, 3824) hervor; zeigen Vorbehalte wie im §& 30 
des Preßgesetzes, § 24 des Vereins G v. 19. 4. 08; 
läßt die Fassung des §9 MStG#B im Gegensatze 
zu Ecs# z. StöB F 4 erkennen. In Preußen ist 
ferner bei Gebietserweiterungen das Gesetz von 
1851 auch nach Feststellung der Verfassung des 
Norddeutschen Bundes mehrfach noch ausdrücklich 
übertragen worden (vgl. unten B 1). Für das Kgr. 
Sachsen unten B ll. Im Einklange damit steht, 
daß es in den 1877 „auf Veranlassung des Kgl 
preußischen Kriegsministeriums“ herausgegebenen 
„Militärgesetzen des Deutschen Reiches“ II unter 
Abschnitt X1 „Die bewaffnete Macht im Dienste 
der öffentlichen Ordnung“" heißt, daß in all den 
Beziehungen, wo für Preußen das Gesetz von 1851 
„nach wie vor“ Gültigkeit hat, in den andern Bun- 
desstaaten „die etwaigen landesgesetzlichen Be- 
stimmungen“ gelten. Darnach ist auch in dem 
kaiserlichen Erl v. 22. 7. 70 Z 7 verfahren. 
Hiernach ist im Reiche die Anordnung des B. 
auch durch die Einzelstaaten grundsätzlich nicht aus- 
geschlossen. Freilich hat sowohl der Oberbefehl des 
Kaisers wie die vereinheitlichende Gesetzgebung 
den Einzelstaaten nur ein Bruchstück früherer 
Rechte belassen; aber auch das kann noch Wir- 
kungen äußern, namentlich wo die Befugnis des 
Kaisers mangels der Delegation versagt. Die 
Fortdauer des einzelstaatlichen Rechts ist also nicht 
zwecklos. Voraussetzung ist allerdings für die 
Militärdiktatur, daß dem Staate überhaupt noch 
eine Militärgewalt verblieben ist; die bloße Mög- 
lichkeit, fremde Truppen zu „requirieren", reicht 
nicht aus, um sie mit Verwaltungsaufgaben zu 
belasten. 
B. Die Staaten im einzelnen. 
J. Preußen (VU 111). Das Gv. 4. 6. 51 (Ur- 
sprung Notverordnung v. 10. 5./4. 7. 49) gilt für 
den ganzen Staat; ausdrücklich ist es durch Kgl V 
v. 25. 6. 67 auf Hannover, Hessen-Nassau und 
Frankfurt a. M., durch V v. 22. 3. 91 auf Helgo- 
land übertragen worden; in die andern angeglie- 
  
derten Gebiete ist es mit der sonstigen Gesetzge- 
bung eingeführt (Zur Geschichte der Gesetzgebung: 
St Ber d. II. Kammer 1849, 1, 195; 1851, An- 
lageband 2 Nr. 96. „Erläuterungen“ zu dem Ge- 
setze gab eine Instr d. Kriegs Min v. 4. 7.-63 
Z III, Abdruck GVBlf. d. Kgr. Sachsen 1872, 254). 
1. Der „Belagerungszustand“ im eigentl. Sinne. 
a) Die Voraussetzungen für die Er- 
klärung des B. sind die gleichen wie im Reiche. 
Die Anordnung seeht für den Kriegsfall in 
den „von dem Feinde bedrohten oder teilweise 
schon besetzten Provinzen“ jedem Festungskom- 
mandanten, dem tatsächlich kommandierenden 
General für den Bezirk seines Korps zu — für den 
Fall des Aufruhrs dagegen dem Staatsministe- 
rium, in dringenden Fällen jedoch vorläufig, unter 
Vorbehalt der Bestätigung durch das Staats- 
ministerium, auch dem obersten Militärbefehls- 
haber eines Distrikts auf Antrag des Verwaltungs- 
chefs des Reg Bezirks, bei Gefahr im Verzuge selbst 
ohne Antrag. Die Wirksamkeit ist abhängig von 
der „Verkündung“" bei Trommelschlag oder Trom- 
petenschall für den betroffenen Ort; daneben ist 
es notwendig (streitig), die Erklärung durch Mittei- 
lung an die Gemeindebehörde, Anschlag an öffent- 
lichen Plätzen und durch öffentliche Blätter ohne 
Verzug „zur allgemeinen Kenntnis zu bringen". 
b) Die Wirkungen sind gegenüber denen 
für das Reich nur noch abgeschwächt, indem die 
Schärfungen des materiellen Strafrechts an §§ 2, 
4 EG z. StGB scheitern. Dagegen bleibt es nach 
&16 GVG# möglich, a 7 Vul außer Kraft zu setzen 
und Kriegsgerichte einzusetzen. Für die Zuständig- 
keit, die Bildung des Gerichts, das Verfahren und 
die sich jetzt ergebenden Schwierigkeiten gelten die 
unter §& 2 entwickelten Sätze: auch bezüglich Haft, 
Durchsuchung und Beschlagnahme, soweit sie nicht 
in dem Gesetze zum Schutze der persönlichen Frei- 
heit v. 12. 2. 50 eine Schranke finden. Doch 
könnte auch dieses Gesetz durch Aufhebung der 
à 5, 6 Vul ausgeschaltet werden. 
Statthaft ist es, auch die oben 52 bezeichneten 
Freiheitsrechte ganz oder zum Teil außer Kraft zu 
setzen. Indessen ist die Befugnis hierzu im wesent- 
lichen nur bezüglich der freien Meinungsäuße- 
rung, der Vereins= und Versammlungsfreiheit 
und der Schaffung von Kriegsgerichten erhalten, 
während die Gewähr der persönlichen Freiheit, 
der Unverletzbarkeit des Hauses, des Briefgeheim- 
nisses (à 5, 6 Vü jetzt zum größten Teile durch 
die Normen des Reichsprozeßrechts ersetzt sind. 
Immerhin haben die a5,6 noch Geltung bewahrt für 
die außerprozessualen Fälle der Verhaftung, so- 
daß hier noch Raum bliebe, die Schranken des 
Gesetzes zum Schutze der persönl. Freiheit außer 
Kraft zu setzen. 
c) Praxis seit der RV: Juni 1871 in Kö- 
nigshütte (Schlesien) durch den Militärbefehls- 
haber auf Antrag des Regierungspräsidenten; 
1885 gleichermaßen in Bielefeld. 
2. Uebrigens können auch ohne Erklärung des 
B. bei dringender Gefahr für die öffentliche Si- 
cherheit jene Freiheitsrechte — abgesehen von der 
Ausschaltung der ordentlichen Gerichtsgewalt — 
zeit= und distriktsweise vom Staatsministerium 
außer Kraft gesetzt werden (5 16), sog. Klei- 
ner Belagerungszustand. 
II. Sachsen (#& 13 ff, G v. 10. 5. 51, GVl 
118). Die Vorschriften werden für fortdauernd 
 
	        
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