Abolition 51
Staatsgewalt, durch den ein noch nicht zum rechts-
kräftigen Abschluß gediehenes Strafverfahren un-
ter Verzicht auf die Strafverfolgung aus Gnade
niedergeschlagen wird. Die A. greift in den Gang
der Justiz ein, zwar gegen die Regel, aber nicht
gegen das Recht sie ist deshalb weder ein Justizakt,
noch ein Spezialgesetz, sondern ein Akt der voll-
ziehenden Gewalt, ebenso wie die „Begnadigung“
im engeren Sinne, von der sie sich äußerlich durch
das zeitliche Merkmal, innerlich allerdings oft durch
das Motiv und vor allem in der Tragweite unter-
scheidet. Wie die „Begnadigung" kann die A. so-
wohl für einen einzelnen Fall als für eine Mehr-
heit von Fällen erfolgen, die bei bestimmtem An-
lasse mit Vergessen begnadet werden sollen (Am-
nestie). Die Bezeichnung „Abolition“ findet sich
in den Verfassungsgesetzen von Sachsen, Württem-
berg, Koburg-Gotha, Waldeck, Reuß ä. L.,
Schaumburg-Lippe und Bremen. Waldeck und
Hamburg erwähnen ausdrücklich die Amnestie.
Das Wesen sowohl wie der Name ist schon dem
Rechte Roms bekannt, jedoch nicht ganz in dem
heut geläufigen Sinne, da die abolitio bloß ein
schwebendes Verfahren beseitigte, nicht aber die
Möglichkeit einer erneuten Verfolgung benahm;
für eine völlige Freiheit davon bedurfte es eines
beneficium generale oder einer indulgentia spe-
cialis. In unfre Rechtssprache wird das Wort A.
über das Französische gelangt sein; wenigstens
bezeugt es Littré schon als einen Ausdruck des
ancien droit. In der Zeit des absoluten König-
tums war die A. eine häufig und hauptsächlich zu-
gunsten des Adels gehandhabte Maßnahme (ogl.
die Kritik in dem Art. „abolition“ des Supple-
ments zur Encyclopédie 1776); darun fielen die
lettres d’abolition der Revolution zum Opfer.
In Deutschland ergab sich die Möglichkeit, ein
Strafverfahren niederzuschlagen, schon früh aus
der nicht ohne Eigennutz von den Trägern der
Gerichtsgewalt beanspruchten Gnadenübung. Erst
mit der Ausbildung des absoluten Staats ist auch
dieses Hoheitsrecht ausschließlich in die Hand des
Landesherrn gekommen; als frühe Aeußerung die
preußische Kriminal von 1717 Kap. XI: „Von
Nachlassen der Strafen, vom Begnadigungsrechte
und Abolition im Kriminalprozesse“. Moser be-
zeichnet die Abolierung schon als ein unwider-
sprochenes Recht der Landeshoheit, das auf Reichs-
herkommen beruhe (Von der Landeshoheit in
Gnadensachen 1773 S 71). So kann als das ab-
schließende Wort für die Entwicklung § 9 II 13
ALn gelten: „Das Recht aus erheblichen Grün-
den Verbrechen zu verzeihen, Untersuchungen
niederzuschlagen, Verbrecher ganz oder zum Teil
zubegnadigen, . kann nur von dem Oberhaupte
des Staates unmittelbar ausgeübt werden .“
(die Kriminal O v. 11. 12. 1805 5R 590 wiederholt
den Satz, läßt aber fort „aus erheblichen Grün-
en“).
Die A. ist ein Ausfluß der Gnadenhoheit, doch
von solcher Art, daß Gesetzgebung und Literatur
Bund A. nicht nur nebeneinander stellen, sondern
die A. aus der B scharf aussondern (vgl. ALF I 9
§* 99), ist doch das Verschonen selbst mit der Fest-
stellung einer Straftat eine ungleich weiter grei-
fende Gunsterweisung als die B nach festgestellter
Tat; sie ist aber auch dem Verdacht willkürlicher
Begünstigung stärker ausgesetzt. Der Unterschied
ist um so schärfer hervorgetreten, je mehr man
eempfindet, daß die B nicht ein Rest der Kabinetts-
justiz ist, sondern bei der Unvollkommenheit jeder
Rechtsordnung die notwendige Ergänzung inner-
halb des Rechts bildet (bezeichnend ist nach dieser
Richtung in Italien die Benennung des ministro
di grazia e giustizia), und je mehr das Theorem
von der Teilung der Gewalten gerade im Ausbau
und in der Betätigung der Gerichtsgewalt eine
naturgemäße Verwirklichung gefunden hat. Der
veränderten Auffassung lieh schon an der Schwelle
des konstitutionellen Deutschlands einen sprechen-
den Ausdruck die bayrische Verf v. 1. 5. 1808
(5. Titel „von der Justiz“ § 4): „Der König kann
in Kriminalsachen Gnade erteilen, die Strafe er-
lassen oder mildern, aber in keinem Falle irgend
eine anhängige Streitsache oder angefangene U
hemmen, viel weniger eine Partei ihrem gesetz-
lichen Richter entziehen.“ In der gleichen Rich-
tung wirkten als Vorbild die französischen Konsti-
tutionen seit dem Kaisertum, vornehmlich aber die
Verfassung Belgiens von 1831 (a 73), wo die A.
als in direktem Widerspruch zu den Grundlagen
der öffentlichen Ordnung stehend betrachtet wird.
In demselben Sinne lautete die Begründung in
der Kommission der preußischen Nationalversamm-
lung 1848: „Das Recht der A. greift in das Gebiet
der gesetzgebenden und der richterlichen Gewalt
allzusehr ein als daß dasselbe innerhalb der kon-
stitutionellen Monarchie dem Könige allein über-
antwortet werden könnte.“ Auch die RV v.
28. 3. 49 verlangte für „das Verbot der Einleitung
oder Fortsetzung von Untersuchungen“ für den
Kaiser „die Zustimmung des Reichstags" (§ 81),
und dabei ist es in der Erfurter Unions Verf (5 79)
verblieben.
Diese zentralen Vorgänge wird man bei der
Beurteilung des Rechtsstaates im einzelnen nicht
außer acht lassen dürfen.
+# 2. Der Geltungsbereich des Abolitions-
rechts in den Einzelstagten ist schon nach ihrem
Gesetzesmateriale nicht unzweifelhaft. Der Ein-
tritt in das Reich hat den Streit über die Fort-
geltung entfacht.
I. Drei Gruppen lassen sich nach den Verfas-
sungen unterscheiden:
1. Ausdrücklich ausgeschlossen ist die A.
in Bayern (Vu Tit 8 5 54), und zwar schlecht-
hin, da die Wendung „angefangene“ U das An-
fangen einer U bedeutet.
2. Dagegen ausdrücklich eingeräumt ist
die Abolition.
a) schlechthin in Sachsen (§52), Koburg-
Gotha (140), Waldeck (12), Reuß ä. L.
(45), Schaumburg-Lippe (10);
b) unter gewissen Einschränkungen (unten §# 5),
wobei die Schranke bezüglich der Ministeranklage
außer Betracht bleiben kann, in Preußen
(a 49), Württemberg (97), Braun-
schweig (208), Bremen (57 i.
3. Für die übrigen Staaten sagt die Verfassung
unmittelbar nichts über die Abolition.
a) Gewisse Anknüpfungspunkte könnte man in
dem Ausspruche finden, daß dem Landesherrn
(Senat) das Recht der „Begnadigung“ zugeschrie-
ben wird: Baden (15), Oldenburg (10),
Meiningen (106), Altenburg s8), Ham-
burg (24).
Da B wie A. in den Hoheitsrechten inbegriffen
ist, die dem Landesherrn auch ohne Ausspruch der
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