Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

  
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Ebenbürtigkeit (Geschichte) 
  
und herrschaftlicher Macht. Haben sich bisher — 
mit geringen Ausnahmen des sächsischen Rechts 
— als unebenbürtig nur gegenübergestanden 
Freie und Unfreie, so traten jetzt die neuen Wert- 
begriffe des Feudalismus an die Stelle des alten 
germanischen Freiheitsbegriffes, um neue Stände 
mit neuen Unebenbürtigkeiten zu schaffen. Als 
erster Stand sonderte sich aus den Freien der mit 
größter wirtschaftlicher Macht ausgestattete Herren- 
stand ab, gebildet von dem aus dem karolingischen 
Beamtenadel hervorgegangenen Reichsfürsten- 
stande (principes imperii) und den sogenannten 
Dynasten (liberi barones), die, z. T. aus Resten 
des alten Adels (Semperfreier) bestehend, als 
Vogtei= und Schutzherren ihrer Hintersassen eine 
derjenigen der Fürsten ähnliche Stellung inne- 
hatten. Diesem Stande der Fürsten und freien 
Herren folgte derjenige der Ritter, zusammen- 
gesetzt z. T. aus Unfreien, die durch Verleihung 
von Benefizien in lehensrechtliche Beziehung zu 
ihrem Herrn getreten waren, z. T. aus Freien, 
die sich zur Erlangung ökonomisch gesicherter 
Stellung in Lehensverhältnis und Ministerialen- 
stellung zu einem Herrn begeben hatten. Diesen 
beiden Ständen folgten der in sich wieder vielfach 
abgestufte Stand der Gemeinfreien und die viel- 
fachen Grade der Unfreien. Das E. Prinzip galt 
auch für diese neuen Stände: die Unebenbürtig- 
keit zwischen Herren und Gemeinfreien, schon zur 
Zeit des Sachsenspiegels für andere Gebiete gül- 
tig, hatte seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhun- 
derts auch auf dem Gebiete des Eherechts Geltung 
erlangt; zwischen Herren und Dienstmannen wurde 
sie wiederholt durch reichsgerichtliche Entschei- 
dungen festgestellt, zwischen Freien und Unfreien 
endlich war ihr Fortbestand zweifellos; nicht je- 
doch kann eine Unebenbürtigkeit zwischen Gemein- 
freien und Dienstmannen angenommen werden. 
In seiner Wirkung unterschied sich das mittel- 
alterliche E. Recht wesentlich von dem altgerma- 
nischen. Die Unebenbürtigkeit war 
kein Ehehindernis mehr, sie machte 
aber diese Ehen zu nicht vollwirksamen, zu „Miß- 
heiraten“; der übergenössische Mann teilte 
trotz der ehelichen Gemeinschaft der untergenössi- 
schen Frau seine höheren Geburtsrechte nicht mit, 
umgekehrt sank die übergenössische Frau für die 
Dauer der Ehe in den Stand des untergenössischen 
Mannes. 
III. Auf diesen Grundlagen baut sich das E. Recht 
der Neuzeit auf. Der Anfang der Neuzeit kennt 
folgende Stände: 1. den hohen Adel MI, gebildet 
aus den Fürsten und freien Herren des Mittel- 
alters, sein Wesen liegt in der Reichsstandschaft; 
2. den niederen Adel, hervorgegangen aus der 
alten Ritterschaft und neugegründetem Adel; 
3. den Bürgerstand; 4. die Unfreien. 
1. Die Wirkung des E Prinzips zwischen diesen 
Ständen ist durch den Einfluß des römischen Rechts 
stark gemindert worden: bei Verbindungen zwi- 
schen Freien und Unfreien blieb jeder Ehegatte 
in seinem Stand, die Kinder folgten dem Stande 
der Mutter; für Verbindungen zwischen niederem 
Adcl und Bürgerlichen galt gemeines Recht, Frau 
und Kinder teilten den Rang des Mannes. Viel 
schwicriger ist die juristische Beurteilung des 
Ebenburtsrechts des hohen Adels zu Beginn der 
Neuzeit. Denn hier müssen große Bedenken da- 
gegen bestehen, in den Lehren der damaligen 
  
Rechtswissenschaft das tatsächlich geltende Recht 
zu sehen. Die Rechtswissenschaft kümmerte sich 
zunächst überhaupt nicht um das tatsächlich vor- 
handene, überkommene Recht. Sie lehrte unbe- 
denklich die Anwendung des römischen Rechts 
auf die deutschen Verhältnisse; die heutige Wissen- 
schaft aber wird zu prüfen haben, ob dadurch tat- 
sächlich das gemeine Recht, d. h. gänzlich gleiche 
und volle Wirkung aller Ehen zwischen allen 
Ständen, geltendes Recht wurde. Wenn die ro- 
manistisch geschulten Juristen lehrten, daß bei 
Verbindungen hochadeliger Männer mit niedriger 
geborenen Frauen sowohl wie hochadeliger Frauen 
mit niedriger geborenen Männern Frau und 
Kinder den Stand des Mannes teilten, so konnten 
sie diesen Satz auch mit Erfolg auf das Naturrecht 
stützen. Daß man ferner das ius divinum zu 
Hilfe nahm, um nachzuweisen, daß die Bibel kein 
E.Recht kannte, ist typisch für das damalige System 
der Rechtswissenschaft, kann aber uns nicht über- 
zeugend beweisen, daß das alte Recht derogiert 
war. In Wirklichkeit ist denn auch diese romani- 
stisch-naturrechtliche Auffassung, wenngleich sie 
bis ins 18. Jahrhundert von der Mehrzahl der 
Schriftsteller geteilt wurde, nie ohne Widerspruch 
herrschend gewesen, vielmehr ist sie schon früh, 
nachweislich von Beginn des 17. Jahrhunderts 
ab, bekämpft worden mit dem Hinweis darauf, 
daß das E. Recht in einem alten Herkommen der 
erlauchten Familien begründet sei. Tatachlich 
übten diese Familien das alte Herkommen au 
weiter, und so wurde denn auch in der Mitte des 
18. Jahrhunderts von der herrschenden Lehre 
das Bestehen des E.Rechts im Prinzip wenigstens 
zugegeben. Unbestritten war nur, daß die Ehen 
zwischen hohem Adel und Bürgerlichen uneben- 
bürtig waren. Damit war jedoch insofern eine 
bedeutende Aenderung der Theorie eingetreten, 
als das Streitfeld selbst damit geändert war: man 
hatte sich, indem man einmal anerkannte, daß das 
gemeine Recht hier keine Geltung habe, aus dem 
Gebiete des römischen Rechts in das des deutschen 
Rechts begeben. Hier kämpfte die Wissenschaft 
lange und heftige Kämpfe, denn es war nicht 
ganz einfach festzustellen, welche Gestaltung das 
Herkommen in der Praxis angenommen hatte. 
Göhrum, dessen Werk aus der Mitte des 19. Jahr- 
hunderts grundlegend für diese Materie ist, hat 
mit Recht darauf hingewiesen, daß jene Feststel- 
lung nur unter folgendem Gesichtspunkte vorge- 
nommen werden kann: am Ende des Mittelalters 
haben wir ein feststehendes Gewohnheitsrecht 
derart, daß die „Fürsten und Herren“, d. h. die 
reichsständischen Familicn, durch das E. Prinzip 
von allen übrigen Ständen getrennt sind. 
Ist jenes alte Gewohnheitsrecht durch ein neueres 
Herkommen oder Gesetz ausgehoben worden? Die 
Vermutung spricht für das Weiterbestehen. Die 
Bildung eines derogierenden Gewohnheitsrechts 
wäre nun an sich im Anschluß an die Rezeption 
des römischen Rechts wohl denkbar, allein sie ist 
nicht nachweisbar. Durch zahlreiche Reichshof- 
ratskonklusa nachweisbar ist hingegen zunächst, 
daß stets Ehen zwischen reichsständischen Herren 
und bürgerlichen Frauen als unebenbürtig ange- 
sehen worden sind. Diese sind daher auch die 
Ehen, die die Wahlkapitulation in erster Linie 
unter „unstreitig notorischen"“ Mißheiraten ver- 
stand, wie sich aus dem Reichsschluß v. 28. 7. 1747 
 
	        
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