Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

  
  
  
Evangelische Kirche (Landeskirche, Union) 
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Reformation Luthers, führt ihre rechtliche Existenz 
in Deutschland zurück auf die vom Reich erlassenen 
staatsrechtlichen Akte von 1526—1648 (vgl. Zorn, 
Lehrbuch des Kirchenrechts & 11). Der westfälische 
Friede (1648) sicherte den Evangelischen endgüstig 
die rechtliche Existenz im Reich, und zwar den 
Evangelischen beider Bekenntnisse, den Luthera- 
nern wie den Reformierten. Das heutige Reichs- 
recht steht in Fortentwicklung der Gedanken des 
alten Reichsrechtes auf dem Standpunkt der 
vollen Gleichberechtigung aller Reli- 
gionsbekenntnisse (G v. 3. 7. 69), hat im übrigen 
die Ordnung des Religionsrechtes den Einzel- 
staaten überlassen. Die katholische Kirche erklärt 
noch heute die evangelische als eine innerhalb der 
Kirche (als welche sie sich allein betrachtet) be- 
stehende Sekte häretischer Katholiken, welche straf- 
rechtlich zu verfolgen sei; die evangelische Taufe 
wird als gültig anerkannt und demgemäß durch 
sie die Zugehörigkeit zur Kirche, also auch die 
Jurisdiktion der rechtmäßigen kirchlichen Oberen, 
des Papstes und der Bischöfe, begründet (Zorn, 
KRK 227). 
2. Die Einzelstaaten schlossen sich nach 
dem westfälischen Frieden kraft des ihnen gewähr- 
ten jus reformandi zunächst grundsätzlich konfessio- 
nell ab (Zorn 147 ff) und zwar alle mit Ausnahme 
von Oesterreich, Bayern, den geistlichen Fürsten- 
tümern und einigen freien Reichsstädten evange- 
lisch. In Oesterreich erhielten die Evangelischen, 
nachdem sie bis dahin mit schweren Strafen ver- 
folgt worden waren, eine engbegrenzte Toleranz 
durch Josef II. im Jahre 1781, in Bayern erst 
seit 1803. Weiterhin wurde, in Bayern schon seit 
1809 und endgültig durch die Vll (2. Beilage) von 
1818, in Oesterreich seit dem Patent von 1861 
und endgültig durch die Grundgesetze von 1867, 
volle Parität zwischen der evangelischen und ka- 
tholischen Kirche anerkannt. Diese Parität 
ist jetzt in allen deutschen Cinzelstaaten aner- 
kanntes Staatsgrundprinzip. 
3. Alle deutschen Einzelstaaten erkennen die 
ev. K. als „Landeskirche" an. Dieser Be- 
griff ist jedoch gesetzlich nicht näher definiert, und 
auch der Theorie ist eine allseitig befriedigende 
Bestimmung nicht gelungen. Einen interessanten 
und scharfsinnigen Versuch nach dieser Richtung 
hat Hinschius (in Marquardsen I, 1, 2409 ff) unter- 
nommen, indem er die „Landeskirche“ unter den 
allgemeinen Begriff „Korporation des öffentlichen 
Rechts" stellt; doch dürfte dieser Versuch bei dem 
Mangel des Zwangsmomentes hinsichtlich der 
Zugehörigkeit zu einer Landeskirche und der Un- 
möglichkeit, die kirchlichen Aufgaben heute noch 
als staatliche zu fassen, nicht gelungen sein (s. dazu 
Krit VJSchr. 1884, 134 ff, ebenso Rosin, Recht 
der öffentl. Genossenschaft, 1885, 35 ff). Ge- 
schichtlich entwickelte sich der Begriff Landeskirche 
aus der nachreformatorischen Staatskirche, der 
anzugehören alle Staatsangehörigen rechtlich 
verpflichtet waren und die einen Bestandteil, ja 
die Grundlage der Staatsverfassung bildete. Die 
Periode des Staatskirchentums ist heute über- 
wunden, doch ist aus ihr noch eine Reihe beson- 
derer einzelner Privilegien vorhanden, welche 
heute den Begriff „Landeskirche“ aus- 
machen. Diese Privilegien sind in den deutschen 
Einzelstaaten verschieden; die wichtigsten sind: 
Anerkennung der Kirchenämter als öffentlicher 
  
  
Aemter, Steuerbefreiungen, Vorrechte geistlicher 
Personen beim Militärdienst, theologische Fakul- 
täten an Staatsuniversitäten, besondere Vertre- 
tung im Landtag (nicht in Preußen), Einrichtung 
der Elementarschulen auf landeskirchlicher Grund- 
lage, Aufwendung bedeutender Staatsmittel für 
die Landeskirchen, staatliche Eintreibung von Kir- 
chensteuern, staatliche Durchführung kirchlicher 
Verfügungen, staatlicher Schutz der Festtage u. a. 
m. (zu der ganzen Frage Zorn 219 ff; Schoen, 
Das Landeskirchentum in Preußen, 1898, 32 ff; 
Schoen, KR 1, 161 ff, 171 ff; Tellemann, D. hist. 
Entwickl. d. Begr. „Landeskirche“, Diss. Leip- 
zig 1908). 
4. Die ev. K. zerfiel in Deutschland sehr bald in 
die zwei Bekenntnisse der Lutheraner und 
der Reformierten. Der Charakter der Re- 
formation in Deutschland war durch Luther be— 
stinimt. Mehrfach aber fanden schon frühzeitig 
Anlehnungen an die in einigen Punkten, vor 
allem in der Abendmahlslehre, abweichende Mei- 
nung der schweizerischen Reformatoren statt. 
Sie führten zu besonderen kirchlichen Gestaltun- 
gen, welche immerhin neben den lutherischen die 
verschwindende Ausnahme waren. Durch die 
Einwanderung fremder, besonders niederländi- 
scher und französischer Protestanten wuchs die 
Zahl dieser reformierten Gemeinden erheblich. 
Die lutherischen und reformierten Gemeinden 
bestanden unter dem Schutz des Reichsrechtes ne- 
ben und unabhängig von einander. Dies ist heute 
noch der Fall in Hannover, dem ehem. Kurhessen, 
Schleswig-Holstein, Bayern r. d. Rh., Sachsen, 
Württemberg, Mecklenburg und einigen Klein- 
staaten. — Dagegen ist in anderen deutschen Län- 
dern durch die Union ein gemeinsames Band 
um die beiden evangelischen Bekenntnisse ge- 
schlungen worden, so in den 9 älteren Provinzen 
Preußens, dem ehem. Nassau, Bayern l. d. Rh., 
Baden, Rheinhessen, Anhalt, Birkenfeld, Waldeck 
und einzelnen Städten. Die Union wurde 1817 
durch Friedrich Wilhelm III. geschaffen in Weiter- 
entwickelung der Traditionen des reformierten 
Hohenzollernhauses. Die rechtliche Bedeutung 
der Union festzustellen ist schwierig. Die Union 
sollte keine Verschmelzung der beiden Bekennt- 
nisse, sondern eine höhere Vereinigung beider im 
Sinne ihres Stifters sein. Die darin liegende 
Unklarheit (um nicht zu sagen Widerspruch) ist 
nicht zu beseitigen. Der „Bekenntnisstand“ der 
einzelnen Gemeinden blieb gewahrt und ebenso 
ist dies aufs sorgsamste in den neueren Ordnungen 
geschehen. Andererseits wurde doch die Abend- 
mahlsgemeinschaft zur Grundlage der Union 
gemacht, wie 1529 die Abendmahlstrennung die 
Grundlage der Scheidung gewesen war. Die Ver- 
fassungsgemeinschaft wurde in der Weise herge- 
stellt, daß die resormierten Gemeinden als solche 
erhalten blieben, aber den landesherrlichen Kir- 
chenbehörden unterstellt wurden, bei deren Be- 
setzung auf den unierten Charakter der Landes- 
kirche Rücksicht genommen werden sollte; ebenso 
blieben für die synodale Organisation die refor- 
mierten Gemeinden erhalten, doch gehen sie in 
den höheren Synodalverbänden auf: in Alt- 
preußen tragen Provinzial- und Generalsynoden 
unierten Charakter (vgl. über die Union Zorn 
206 f; Schoen, KR 1, 203 ff). — Endlich ist zu 
bemerken, daß in einzelnen Staaten, so in Preu-
	        
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