Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Erster Band. A bis F. (1)

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Willen angeordnet werden; jedoch nur sofern der 
Richter findet, daß seine die EGewalt der Eltern 
stärkende Verfügung geeignet ist, einer Wohlge- 
fährdung des Kindes vorzubeugen. 
z 3. Fürsorge-Erziehung nach Reichs-Straf- 
recht (§§ 55, 56, 362 St GB). 
I. Wenn ein Minderzjähriger, insbesondere ein 
Kind, mit dem Strafgesetze „in Konflikt gekom- 
men“ ist, so können die Gesichtspunkte, welche dem 
erwachsenen Gesetzesübertreter gegenüber z. Z. 
gelten, zum wenigsten nicht allein maßgebend 
sein. Das Interesse des Staates an Zurück- 
drängung des Verbrechens, an „sühnender Ge- 
rechtigkeit“, an „Vergeltung"“ ist kaum so groß, 
wie sein Interesse an der E noch erziehbarer 
Menschen zu brauchbaren Mitgliedern der Gesell- 
schaft. Dazu kommt die geistige und sittliche Un- 
reife des Kindes, seine innere Abhängigkeit von 
Vorgängen, deren Verantwortung ihm nicht ob- 
liegt. Dem trägt das St#B teilweise Rechnung 
— nicht genügend, wie jetzt allgemein anerkannt 
wird. Deshalb teilt es die Minderjährigen in 
3 Stufen ein: a) Kinder unter 12 Jahren; sie 
können nicht bestraft, wohl aber durch die landes- 
rechtlichen FEGesetze getroffen werden, §& 55 
StGB. Von den lediglich zur Ausführung 
des §& 55 erlassenen Landesgesetzen befinden sich, 
seitdem auch das sächsische FEesetz in Kraft 
getreten ist, keine mehr in Geltung. Sie sind auf- 
gegangen in den FE esetzen (vgl. unten § 4). 
Indessen befinden sich noch Zöglinge aus der 
Zeit jener Gesetze in FE; in Preußen z. B. am 
31 3. 08 noch 2561. 
b) „Jugendliche“ von 12—18 Jahren; sie kön- 
nen bestraft werden, wenn sie die zur Erkenntnis 
der Strafbarkeit ihrer Handlung erforderliche Ein- 
sicht zur Zeit der Tat besessen haben. Bei Frei- 
spruch, weil die Einsicht verneint wird, hat der 
Strafrichter zu bestimmen, ob der Ange- 
schuldigte seiner Familie überwiesen oder in eine 
Eoder Besserungsanstalt gebracht werden soll 
(§* 56 StGB). 
Jc) Erwachsene Minderjährige von 18—21 Jah- 
ren (zur Zeit der Tat); sie werden behandelt wie 
Volljährige. FE ist dann meist nur nach Reichs- 
privatrecht möglich: es sei denn, daß sie schon vor 
Erreichung von 18 Jahren angeordnet worden ist. 
Für weibliche Minderjährige, die sich der ge- 
werbsmäßigen Unzucht ergeben, kann jedoch noch 
die der FE gleichzuachtende Korrektionsbehand= 
lung nach § 362 SteE# unter ganz bestimmten 
Voraussetzungen eintreten. Die Landespolizei- 
behörde hat Arbeitsanstalten, in welchen Land- 
streicher, Zuhälter und rückfällige Bettler in sog. 
„Nachhaft“ zur Arbeit angehalten werden. Diese 
Nachhaft verhängte die Landespolizeibehörde 
früher ohne Rücksicht auf das Alter über alle ihr 
überwiesene Freudenmädchen. An Stelle der 
Nachhaft tritt nunmehr für das Alter unter 18 
Jahren notwendig, später aber auch noch wahl- 
weise, die Einweisung in Rettungshäuser. Dort 
findet dann noch ein Eersuch statt. Bei sittlich 
so tief gesunkenen Personen ist der Erfolg schwie- 
rig, auch keineswegs häufig, aber doch zu versuchen. 
II. Die Ueberweisungen der Il2.= 
bis 1-JZährigen insbesondere. Maß- 
gebend für die Zulässigkeit der Ueberweisung ist 
das Alter, in dem die Tat begangen ist, nicht das 
Alter zur Zeit des Urteils. Es kann also auch noch 
  
Fürsorgeerziehung 
ein zur Zeit des Urteils 19 Jähriger überwiesen 
werden. In der Anstalt ist er so lange zu behalten, 
als die der Anstalt vorgesetzte Verw Behörde solches 
für erforderlich erachtet; jedoch nicht über das 
vollendete 20. Lebensjahr. Neben der Anordnung 
des Strafrichters kann eine solche des Vormund- 
schaftsrichters aus 88 1666, 1838 BGB oder aus 
dem FEsGesetz bestehen. Dann ist die Entlassung 
mit dem 20. Jahre noch nicht vorzunehmen, viel- 
mehr folgt dann bis zur Volljährigkeit (Vollen- 
dung des 21. Jahres) die Ausführung der An- 
ordnung des Vormundschaftsrichters. Das Kri- 
terium der „Zur Erkenntnis der Strafbarkeit er- 
forderlichen Einsicht“ wird heute allgemein für 
ungceignet gehalten. Die Ueberweisungen der 
12—18 Jährigen insbesondere noch nicht „einsich- 
tigen“ Uebeltäter nehmen von Jahr zu Jahr ab. 
Die Strafrichter fühlen sich zu dürftig über Per- 
son und Familienlage der Jugendlichen unter- 
richtet, um ohne weiteres die FE anordnen zu 
können. Deshalb überlassen sie die Prüfung der 
FE Frage immer mehr dem FéE Verfahren des 
Vormundschaftsgerichts. 
Bei der Reform des StGB wird man wohl 
aus Zweckmäßigkeitsgründen andere Unterschei- 
dungen eintreten lassen, welche die E in stärkstem 
Maßce an die Stelle der Vergeltung setzen. Es ist 
sogar vorgeschlagen worden, in Zukunft alle Er- 
ziehbaren erziehlich zu behandeln, so daß nur 
ohnehin sittlich ganz Verlorene von „Strafe"“ 
getroffen werden könnten 1). 
Nach der heute in der Praxis überwiegenden 
Meinung ist die Staatsanwaltschaft 
berechtigt, von der Erhebung einer Anklage gegen 
ihrer Ueberzeugung nach noch nicht Einsichtige 
abzusehen und statt dessen den Vormundschafts- 
richter zur Prüfung des Falles zu veranlassen. 
Auf dieser Grundlage stehen gewisse Einrich- 
tungen der sog. Jugendgerichte, z. B. 
der Jugendgerichte zu Frankfurt a. M., Berlin 
lauch Lennep), und der Fürsorgeaus- 
schüsse im Bezirke des OLG# Hamm, deren 
Einrichtung durch eine V'g des Pr. Justiz Min 
gutgeheißen ist. Man läßt z. B. den Fusschuß 
als Sachverständigenkollegium die Einsichtsfrage 
begutachten und stellt das Verfahren ein, sobald 
der Füusschuß die Einsichtsfrage verneint hat. 
Damit mupß sich naturgemäß die Zahl der aus 
556 angeordneten FEgälle noch weiter verrin- 
gern. Denn die einstellende Behörde kann die 
FE nicht anordnen, sondern muß sie dem mit 
3J31666 und dem FEsesetz arbeitenden Vormund- 
schaftsgericht überlassen. Das ist bei der größeren 
Gründlichkeit des vormundschaftsgerichtlichen Ver- 
fahrens kein Schaden. 
Das Verfahren bis zur Aussprechung der 
Ueberweisung in FE gemäß § 56 richtet sich nach 
den allgemeinen Regeln der St PO. Das Straf- 
gericht bedarf, um die Ueberweisungsfrage zu 
prüfen, weder eines Antrages noch einer Anre- 
1) Dementsprechend hat auch der Vorentwurf 
eines deutschen Strafgesetzbuches 1909 
in §69 Abs. 2 vorgeschlagen: „Erscheint die Tat hauptsächlich 
als Folge mangelhafter E, oder ist sonst anzunehmen, daß 
EdMaßregeln erforderlich sind, um den Täter an ein gesetz- 
mäßiges Leben zu gewöhnen, so kann das Gericht neben 
oder anstelle einer Freiheitsstrase seine Ueberweisung zur 
psttaatlich überwachten E anordnen“.
	        
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