Hessen (Herrschaftsform; Staatsbürger)
alles Bestehenden dem hessischen Staate eine sehr
bedeutende Vergrößerung seines Besitstandes,
von der als wichtigster bleibender Gewinn der
Erwerb der heutigen Provinz Rheinhessen zu er-
wähnen ist.
Der Untergang des Rheinbunds und der Beitritt
des Großherzogtums Hessen zu dem auf dem Wie-
ner Kongreß begründeten Deutschen Bunde
ließen die Verfassung des Staates rechtlich im
wesentlichen unberührt. Der tatsächliche Einfluß
des Deutschen Bundes auf die politische Stellung-
nahme Hessens und die tiefgehende Einwirkung
der „teutschen Bundesakte“ vom 8. Juni 1815
und der „Wiener Schlußakte“ v. 15. 5. 1820 auf
das deutsche Verfassungsleben haben der hessi-
schen Verfassungsentwicklung allerdings für lange
Jahrzehnte ihren Stempel aufgedrückt.
Gegen Ende des Jahres 1820 wurde die hes-
sische Regierung durch die mächtig flutende kon-
stitutionelle Bewegung und durch das Vorbild der
übrigen süddeutschen Staaten gezwungen, von dem
System der absoluten Monarchie zu der kon-
stitutionell-monarchischen Regie-
rungsform überzugehen. Die hessische VU
v. 17. 12. 1820, die nach ihrer Präambel als eine
oktroyierte erscheint, in Wirklichkeit aber auf einer
Vereinbarung zwischen dem Großherzog und
den von diesem durch das Edikt v. 18. 3. 1820
ins Leben gerufenen Landständen beruht, ent-
spricht in allen Stücken dem Typus der deutschen
Verfassungsurkunden aus dem zweiten und dritten
Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Sie zeigt bei
ihrer starken Anlehnung an bayrische, würt-
tembergische und badische Vorbilder in mehr-
fachen Richtungen eine bewußte Anknüpfung an
das Recht der altlandständischen Zeit und steht
dadurch in einem unverkennbaren Gegensatze zu
den nach belgischem Muster gestalteten Verfassun=
gen der späteren Zeit.
Von großem bleibendem Einfluß auf die staats-
rechtliche Stellung und die verfassungsrechtliche
Entwicklung H. war die mit dem 1. Januar 1871
in Wirksamkeit getretene Gründung des Deut-
schen Reichs. In erster Linie ist, vom rein
juristischen Standpunkte aus, bemerkenswert, daß
H. an jenem Tage aufgehört hat, ein souveräner
Staat zu sein. Ist auch die äußere Form der hessi-
schen Verfassungsurkunde durch die Reichsgrün-
dung und die Schaffung der deutschen Reichsver-
fassung nicht berührt worden, so haben doch eine
ganze Reihe von Artikeln der hessischen Verfassung
durch a 2 der R ihre rechtliche Geltung eingebüßt
und führen ein rein formales Dasein.
Innerstaatliche Gesetzgebungsmaßnahmen ha-
ben die hessische Verfassungsurkunde im Laufe des
19. und des 20. Jahrhunderts mehrfachen inhalt-
lichen Aenderungen unterworfen, von denen na-
mentlich die Wahlrechts= und Budgetrechtsände-
rung v. 3. 6. 11 von weittragender Bedeutung ist.
Mit dieser Verfassungsrevision hat die Entwick-
lung einen Abschluß erreicht, der H. hinsichtlich
seiner konstitutionellen Verhältnisse in der Haupt-
sache wieder mit den übrigen süddeutschen Staa-
ten gleichstellt. Die verfassungsrechtliche Gesetz-
gebung der nächsten Jahre wird voraussichtlich in
erster Linie der Ausgestaltung des Beamtenrechts
und der Organisation und Zuständigkeitsabgren-
zung der Polizei dienen.
Nicht alle Aenderungen prägen sich in der äuße-
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ren Gestalt der Verfassungsurkunde selbst aus.
Obwohl nahezu die Hälfte der Verfassungsartikel
ihre Geltung völlig verloren hat und andere Artikel
durch spätere Verfassungsgesetze nicht unwesent-
lich beeinflußt worden sind, ist doch die alte Form
noch geblieben.
#3. Herrschaftsform und Thronfolgeordunng.
Angesichts der antiquierten Bestimmungen der
a 1 und 2 Vu über die Bundeszugehörigkeit von
H. könnte man geneigt sein, auch den a 3, wonach
das Großherzogtum „in der Gesamt--Vereinigung
der älteren und neueren Gebietsteile ein zu ein
und derselben Verfassung verbundenes Ganze“
bildet, als eine veraltete historische Erinnerung
anzusehen. Indessen ist die ausdrückliche ver-
fassungsmäßige Feststellung des seit mehr als
dreihundert Jahren feststehenden Grundsatzes der
Einheitlichkeit und Unteilbarkeit des hessischen
Staatsgebiets auch noch heute nicht ohne Wert.
Solange in der deutschen Staatsrechtswissen-
schaft, wenn auch nur vereinzelt, die Meinung
vertreten wird, daß Erbverbrüderungen aus längst
vergangenen Jahrhunderten die Kraft besäßen,
unbehindert durch die rechtliche und geschicht-
liche Entwicklung eines halben Jahrtausends,
deutsche Staaten auch heute noch wie ein beliebi-
ges Bauerngut zu zerstückeln, ist es notwendig,
auf die verfassungsmäß ige Unteilbar-
keit des Großherzogtums H. mit besonderer Be-
tonung hinzuweisen.
Die Herrschaftsform H. ist die einer kon-
stitutionellen Monarchie. Dem Vorbilde des ab7
der Wiener Schlußakte folgend gibt die hessische
Verfassung in der für die süddeutschen Verfassungs-
urkunden typischen Weise dem monarchischen Prin-
zipe Ausdruck: „Der Großherzog ist das Ober-
haupt des Staats, vereinigt in sich alle Rechte
der Staatsgewalt und übt sie unter den von Ihm
gegebenen, in dieser Verfassungsurkunde festge-
setzten Bestimmungen, aus.“
In der Thronfolgeordnung (s. 82
Abs 1) ist durch die Verfassungsurkunde keine
wesentliche Aenderung herbeigeführt worden. Für
den Fall des Aussterbens des Mannesstammes
des Hauses H. Darmstadt würde die Krone an
den ältesten thronfähigen Agnaten der H.Cassel-
schen Linie des Gesamthauses H. fallen, deren
Erbfolge ursprünglich auf Erbverbrüderung in
Verbindung mit Kaiserlicher Gesamtbelehnung
beruhte, seit den von Philipp dem Großmütigen
und seinen Söhnen getroffenen hausgesetzlichen
Maßnahmen aber zugleich als eine Erbfolge
kraft Geblütsrechts erscheint. Beim Fehlen eines
durch Verwandtschaft oder Erbverbrüderung be-
rufenen Prinzen würde der Thron auf das weib-
liche Geschlecht, und zwar auf die dem letzten
Großherzog dem Verwandtschaftsgrad nach am
nächsten stehende Prinzessin, beim Vorhandensein
mehrerer Prinzessinnen gleichen Verwandtschafts-
grads an die älteste Prinzessin bezw. deren Nach-
kommen übergehen, und zwar wiederum unter
Vorzug des Mannsstammes (a 5).
#§s 4. Die allgemeine Rechtsstellung der Staats-
einwohner; Adelsvorrechte. Eines der wirk-
samsten Mittel, welches von den süddeutschen Re-
gierungen, namentlich von denjenigen Badens
und Hessens, zu Beginn des neunzehnten Jahr-
hunderts angewandt wurde, um ihre in der napo-
leonischen Zeit durch ein buntes Gemenge der ver-