Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Zweiter Band. G bis N. (2)

— 
Kardinal 
1884, 
stein (8. J.), Kirche und Staat, 1883, 192; 
Hergenröther im (kathol.) Kirchenlexikon, 
3, 815. 
Daß die Privilegientheorie der offiziellen römi- 
schen Auffassung, ebenso wie der kurialen Praxis 
entspricht, zeigt eine Entscheidung der Rota Ro- 
mana vom 16. 3. 1610 (in caus. Leodin.): Con- 
cordata expediuntur per vVim gratiae, ergo 
remanct mecum privilegium, ferner ein Breve 
Papst Calixtus' III. an Kaiser Friedrich III. von 
1457: Quamwvis liberrima sit Apost. sedlis auctori- 
tas nullisquc debeat pactionum vinculis coerceri, 
ex mera tamen liberalitate Nostra concordatis 
ipsis locum esse volumus, endlich der a 43 des 
Syllabus von 1864, welcher bloß dem Staate 
das Recht abspricht, sich von einem geschlossenen 
K. wieder loszusagen: Laica (l) potestas 
auctoritatem habet rescindendi, declarandi ac 
faciendi irritas solemnes conventiones (vulgo 
–– [. — 
concordata) cum Sede Apostolica initas sine 
v. Scherer, Kirchenrecht, 1886, 1, 154; von den Publi- 
hujus consensu. 
2. Die Legaltheorie nimmt ihren Aus- 
gangspunkt von der Souveränität des 
Staates, welchem alle Lebenskreise innerhalb 
der Landesgrenzen unterworfen sind. Mit diesem 
Begriffe ist die Existenz einer dem Staate über- 
oder nebengeordneten Kirche unvereinbar. Die 
Kirche steht vielmehr innerhalb des Staates; kon- 
sequent gibt es überhaupt nur noch Religionsgesell- 
schaften mit den Rechten von Korporationen unter 
einem Vorstande, der, wenn er ein Ausländer ist, 
vermöge notwendiger Fiktion als einheimisch und 
gegenwärtig angesehen wird. Damit sind ma- 
teriell die K. in das Gebiet des Staatsrechts 
hinübergespielt, d. h. zu einseitigen Ge- 
setzen umgewandelt, welche nur kraft ihrer 
staatsseitig erfolgten Publikation Geltung bean- 
spruchen können, und deren Abänderung oder 
Aufhebung jederzeit der staatlichen Legislation 
freisteht (revokable Staatskonzession). Lediglich 
der äußeren Form nach haftet ihnen der Charakter 
der Vereinbarung an. Denn auch hier gilt die 
Vertragsunmöglichkeit zwischen Haupt und Glie- 
dern. Ungleiche Gewalten haben zusammen ver- 
handelt: die überlegenere ordnet kraft gütlichen 
Einvernehmens an, was ihr genehm, dem anderen 
vom Unerwünschten das mindest Nachteilige er- 
schienen. 
Bertreten wird diese Doktrin insbesondere von Sar- 
wey, Z. f. Kirchenrecht, 3, 267; Thudichum, Deutsches 
Kirchenrecht 1, 6, 1877; Hinschius in Marauardsens 
HB des öffentl. Rechts, 1883, 1, 273; Zorn, KR. 1888, 
434. 
3. Die Vertragstheorie steht und fällt 
mit der Lehre von der KKordination von 
Staat und Kirche. Sie geht auf die Genesis 
zisten: 
  
  
Konkordate 
Dieser Auffassung hat zuerst Heffter, Europ. Bölker 
recht ", 1888, 5 40, mit dem Schlagworte „spirituelle Sou- 
veränität des Papstes“ Stand und Wesen verliehen. Geteilt 
wird sie von Richter-Kahl, Kirchenrecht“, 1886 
#88; Schulte, Quellen des kath. Kirchenrechts, c 83 
1860: Friedberg, Kirchenrecht", & 48, 10900; 
Mejer in Herzogs Realenzyllopädie für protest. Theol. -, 
10, 730) Sägmüller, Kirchenrecht, 1909, 29. 
b) Oder man findet in den K. eine eigentüm- 
liche dritte Klasse von öffent- 
lichen Verträgen (publicae conventiones) 
neben den Staats= und Völkerverträgen, weil ihre 
Durchführung mit völkerrechtlichen Zwangsmitteln 
nicht möglich erscheint. Die rechtlichen Eigen- 
schaften und Wirkungen des Völkervertrages sollen 
auf sie nur insoweit übertragbar sein, als die 
Eigentümlichkeit der Kirche als mitpaziszierenden 
Teiles die Uebertragung gestattet. 
Das ist die Ansicht Herrmanns in Bluntschlis 
Wörterbuch 5, 737. Ihm folgen von den Kanonisten: 
Bluntschli, VBölkerrecht 2, c4 4433, 1878; L. 
Neumann, Grundriß des Bölkerrechts, 1885, 4 24; 
v. Martens-Bergbohm, Völkerrecht, 1882. 2 1 30; 
Gefscken in v. Holtzendorff VR 2, 216. 
II. Die noch heute viel ventilierte Streitfrage 
läßt sich nur historisch lösen. Sowenig es 
einen unabänderlichen Kanon für das Verhältnis 
zwischen Staat und Kirche gibt, ebensowenig gibt 
es eine absolute Entscheidung über die rechtliche 
Natur der K. Man kann bei ihnen von Privi- 
legien, von Gesetzen, von Verträgen sprechen. Es 
ist aber falsch, sse insgesamt als das eine 
oder das andere zu bezeichnen. Für die Gegen- 
wart hängt die Antwort wesentlich von der Vor- 
frage ab, ob der Papst Subjekt des Völkerrechts 
ist. Nur wenn dies bejaht wird, liegt die Möglich- 
keit vor, den K. den Charakter von Verträgen, 
und zwar von Staats verträgen, beizulegen. 
Die (Herrmannsche) Annahme eines öffentlichen 
Vertrages sui generis ist wertlos, weil sie 
sich jeder rechtlichen Bestimmtheit entzieht. Hin- 
sichtlich der Vorfrage aber kommt folgendes in 
Betracht. 
Solange der Kirchenstaat bestand, war 
der ihn beherrschende Papst zweifellos Sou- 
verän und hatte als solcher völkerrechtliche Per- 
sönlichkeit. Diese Stellung ist ihm aber 1870 durch 
Einverleibung des Kirchenstaates in das Terri- 
torialgebiet des neuen Königreichs Italien ver- 
loren gegangen. Die letztere Tatsache wird aller- 
dings bestritten. Eine Zirkular-Depesche des Kar- 
dinal-Staatssekretärs Jacobini v. 11. 12. 82 stellte 
die seitdem von hochkirchlicher Seite oft wieder- 
der K. zurück, bei welcher Stant und Kirche offen- 
kundig als Kontrahenten auftreten, und nuimmt 
den Besitzstand, welcher den Papst seit dem Mittel- 
alter in allen Stadien der kirchlichen Entwicklung 
als eine unabhängige Macht erscheinen läßt, in 
billige Erwägung. Danach sind die K. zwei- 
seitige Verträge, welche beide Teile recht- 
lich binden. Ueber ihre nähere Onalifizicrung 
gehen die Meinungen aber auseinander. 
a) Man erklärt sie entweder für völker- 
rechtliche Verträge, weil tatsächlich der Papst 
in Europa eine außerstaatliche (internationale) Stel- 
lung einnimmt. 
holte Behauptung auf, daß der Kirchenstaat bei 
dem Einmarsche der Piemontesischen Truppen in 
Rom nicht untergegangen, der Papst mithin Sou- 
verän im Sinne des Völkerrechts geblieben sei. 
Denn die Besitzergreifung von Rom habe gemäß 
der Kapitulation v. 20. 9. 70, welche den Vatikan 
und die Lconinische Stadt von der Uebergabe 
ausdrücklich ausgeschlossen (tranne l monte Vati- 
cano), vor den Toren des päpstlichen Palastes Halt 
gemacht. Tantum occupatum, quantum posses- 
sum! Demgemäß dauere der alte Kirchenstaat in 
dem Restgute des Vatikans fort. Abgesehen davon 
aber, daß der dem Papste angeblich verbliebene 
Gebietsteil kein Volk enthält und demgemäß 
kein zureichendes Substrat für einen Staat
	        
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