Militärstrafgerichtsbarkeit
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des Beschuldigten. Durch die Bekanntgabe der
Anklageverfügung wird der Beschuldigte zum An-
geklagten.
8. Die Stellung derrichterlichen
Militärjustizbeamten (soweit sie nicht
Richter sind) gegenüber dem Gerichtsherrn wird
durch den viel umstrittenen § 97 MStlO, der
dem Beamten auferlegt, dafür Sorge zu tragen,
daß nach Recht und Gesetz verfahren werde, hell
beleuchtet. Hält der Militärjustizbeamte eine Wei-
sung, Verfügung oder Entschcidung des Gerichts-
herrn, die im Laufe des Verfahrens ergeht, (er
muß alle Verfügungen usw. mit wenigen Ausnah-
men mit unterzeichnen), mit den Gesetzen oder
den sonstigen maßgebenden Vorschriften nicht ver-
einbar, so hat er dagegen Vorstellung zu erheben;
bleibt diese erfolglos, so hat er der Weisung des
Gerichtsherrn, der alsdann allein die Verant-
wortung trägt, zu entsprechen, den Hergang jedoch
aktenkundig zu machen. Die Akten sind unverzüg-
lich von dem Gerichtsherrn dem Oberkriegsgericht
zur rechtlichen Beurteilung zur Sache vorzulegen.
Diese Beurteilung ist für die weitere Behandlung
der Sache maßgebend. Eine Abart der das ältere
Beamtenrecht beherrschenden sog. Remonstra-
tionstheorie, ist diese Vorschrift eine der bedeut-
samsten des ganzen Gesetzes. Sie verlangt vom
richterlichen Militärjustizbeamten (bei richtiger
Rechtsauslegung) einen hohen Grad von Charak-
terstärke und Ueberzeugungstreue. Die Vorschrift
hat schwere Mängel. Einmal hat sie zu Zweifeln
Anlaß gegeben, was unter der rechtlichen Beurtei-
lung zu verstehen sei. Die Meinung, die Prüfung
erstrecke sich nur auf reine Rechtsfragen, nicht auf
die Tatseite, ist unhaltbar. Tat- und Rechtsfragen
sind, wie auch schon das Reichsmilitärgericht in der
Frage der Abgrenzung der Schuld-= und Straf-
frage entschieden hat, unlösbar miteinander ver-
bunden. Auch Geschichte und Geist des Gesetzes
sprechen für volle Mitprüfungspflicht und erst
wenn die Frage der Zweckmäßigkeit einer an sich
gesetzlichen Maßnahme kommt, hört das Recht und
die Pflicht der Vorstellung des Beamten auf.
Die Auslegung des § 97 Abs 3 auch in der Praxis
überall in diese Bahn zu lenken, ist schwer, weil
die zahlreichen Oberkriegsgerichte — und hier
zeigt sich der zweite Mangel des Gesetzes — statt
des Reichsmilitärgerichts zur alleinigen und end-
gültigen Entscheidung über alle diese Meinungs-
streitigkeiten berufen sind; damit über Fragen,
die an den verfassungsmäßigen Grundlagen der
Militärstrafrechtspflege rühren. (Vgl. Dietz in
den Militärrechtlichen Studien, Festschrift zum
1. Oktober 1910, 99 ff., hrsg. v. Steidle.)
Die Gerichtsoffiziere haben die gleiche gesetz-
liche Stellung wie die richterlichen Militärjustiz-
beamten (§ 107).
9. Eine besondere Anklagebehörde
(außer beim Reichsmilitärgericht) kennt das Gesetz
nicht. Die Anklage wird bei den Standgerichten
vom Gerichtsoffizier, bei den Kriegsgerichten durch
einen Kriegsgerichtsrat, den der Gerichtsherr be-
stellt, beim Oberkriegsgericht durch einen Kriegs-
oder Oberkriegsgerichtsrat vertreten. Ein be-
schränktes Anweisungsrecht des Gerichtsherrn in
reinen Rechtsfragen ist anzuerkennen, der Grund-
satz, daß der Vertreter der Anklage selbständig
nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung seine
Meinung zu bilden und zu vertreten hat, darf
jedoch nicht berührt werden. Die Praxis im kriegs-
gerichtlichen Verfahren hat dazu geführt, daß die
Anklage regelmäßig vom Untersuchungsführer
vertreten wird, der auch an der Anklageerhebung
meist persönlich beteiligt ist. Diese Uebung hat
sich bewährt.
s# 7. Weitere Einzelheiten des Verfahrens.
1. Verteidigung ist — aber erst nach
Abschluß des Ermittlungsverfahrens — bei der
höheren Gerichtsbarkeit grundsätzlich zugelassen
und es fehlt nicht an Bestimmungen, die weiter-
gehend als im gemeinen Strafrecht auf den Schutz
des Angeklagten bedacht sind. Rechtsanwälte, die
nicht zu den Offizieren des Beurlaubtenstandes
gehören, müssen im allgemeinen als Verteidiger
von der Militärfustizverwaltung zugelassen sein.
Auch Kriegsgerichtsräte, bei den Militärgerichten
beschäftigte Assessoren und Referendare, aktive
Offiziere und solche des Beurlaubtenstandes und
nichtrichterliche obere Militärbeamte dürfen ver-
teidigen.
2. Die Sachleitung in der Hauptverhand-
lung liegt in der Hand eines Juristen. Nur der
Verhandlungsführer darf Fragen an den Ange-
klagten stellen. Der Ausschluß der Oeffentlichkeit
ist u. a. auch bei Gefährdung militärdienstlicher
Interessen möglich.
Der Beweis wird durch den Verhandlungs-
führer aufsgenommen. Im standgerichtlichen Ver-
fahren kann die Beweisaufnahme durch Gerichts-
beschluß auch gegen den Willen des Angeklagten
beschränkt werden.
Fragerecht der Richter usw. vorgesehen. An die
geheime Beratung und Abstimmung (Schuld-
frage: ½ Mehrheit. Der die Verhandlung füh-
rende Kriegsgerichtsrat stimmt zuerst, es folgen
etwaige sonstige Militärbeamte, dann die Offiziere
nach Dienstrang von unten heraufy schließt sich
die Urteilsverkündung an.
3. Besondere Arten des Verfah-
rens sind:
a) Die Strafverfügung, die dem amts-
richterlichen Strafbefehle entspricht, kann (aber nur
nach vorausgegangenem Ermittlungsverfahren)
der Gerichtsherr in Verbindung mit seinem Berater
erlassen. Volle Rechtskraftwirkung im Sinne des
ne bis in iclem ist zu bejahen (s. ZStrW 28, 809 ff).
b) Verfahren gegen Abwesende:r
es handelt sich nur um Sicherung der Beweise,
eine Hauptverhandlung findet nicht statt. Ver-
teidigung nicht ausgeschlossen. Bei Fahnenflüch-
tigen meist Abschluß durch Fahnenfluchtserklärung,
die im Reichsanzeiger veröffentlicht wird. Be-
schlagnahme des Vermögens zugelassen.
4. Rechtsmittel. Außer Berufung und Re-
vision (oben § 5) ist noch die Rechtsbe-
schwerde als ordentliches Rechtsmittel zur An-
fechtung von bestimmten Beschlüssen und Ver-
fügungen zugelassen.
Die Revision kann u. a. auch darauf ge-
stützt werden, daß eine militärische Dienstvorschrift
oder ein militärdienstlicher Grundsatz nicht oder
nicht richtig angewandt worden sei. Das Rechts-
mittelsystem läßt manches zu wünschen übrig. Die
Frist für die Einlegung und Begrün-
dung beträgt für den Gerichtsherrn nur 1 Woche.
Richtige Begründung wird dadurch bei schwierigen.
Sachen oft unmöglich. Das kommt dem Ange-
klagten zugute, der innerhalb der einwöchigen