Full text: Wörterbuch des Deutschen Staats- und Verwaltungsrechts. Zweiter Band. G bis N. (2)

  
Moresnet 
903 
  
da die beiden Kommissionen über die Abteilung der 
kleinen Parzelle des Kantons Aubel, 
nach dem Traktat v. 31. Mai und den übrigen Wiener 
Kongreß-Akten dem Königreiche Preußen angehören solle, 
sich nicht haben verständigen können. 
Diese Schwierigkeit wird der Entscheidung der resp. Re- 
gierungen anheimgestellt. 
In Erwartung dieser Entscheidung soll die proviso- 
rische Grenze durch die Moresnetsche Gemeinde der- 
gestalt gebildet werden, daß derienige Teil dieser Gemeinde, 
der auf der linken Seite einer vom Berüh- 
rungspunkte der 3 Kantons bis zum Be- 
rührungspunkte der 3 Departements 
zu ziehenden geraden Linie belegen ist, in 
allen Fällen dem Königreiche der Niederlande an- 
gehören, hingegen der auf der rechten Seite einer 
von den Grenzen des Eupener Kantons 
gerade von Süden nach Norden, bis zum 
selbigen Berührungspunkte der 3 De- 
partements zu ziehenden Linie liegende 
Teil in allen Fällen dem Königreiche Preußen ange- 
hören und daß endlich der zwischen jenen beiden 
Linien belegene Teil derselben Gemeinde 
als der einzige, der vernünftigerwrise streitig gemacht werden 
könne, einer gemeinschaftlichen Verwaltung 
unterworfen und von keiner der beiden 
Mächte militärisch besetzt werden soll. 
Verhandlungen über eine Teilung des hiernach 
streitig gebliebenen Gebietes — sog. Neutral- 
Moresnet — zwischen Preußen und den Nieder- 
landen sind durch den Ausbruch der Revolution 
in Belgien zum Stocken gekommen. An die 
Stelle der Niederlande ist infolge a 1 Vt zwi- 
schen den Niederlanden und Belgien v. 19. 4. 39 
(Fleischmann, Völkerrechtsquellen S 36) das 
Königreich Belgien getreten. 
Val. Skizze Nr. 2. 
§+ 3. Die Rechtslage im allgemeinen. 
Die rechtliche Natur des Gebietsteils 
ist lebhaft bestritten. Der unterscheidende Zu- 
satz („Neutral“) zu dem Namen ist irreführend; 
denn eine Neutralisierung des Gebietsteils kann 
aus dem Verbot der militärischen Besetzung nicht 
herausgelesen werden. Die Ansicht gar, daß 
„Neutral-Moresnet“ ein selbständiger Staat sei, 
bedarf keiner Widerlegung. Der Landstreifen 
wird, nach dem Patente von 1814, von Preußen 
vollständig in Anspruch genommen, von Belgien 
aber Preußen nicht zugestanden (a 17 Abs 1 des 
Aachener Vt); er ist also im Streite geblieben. 
Somit kann auch nicht von einem coimperium 
(Kondominat ) die Rede sein, wie es meist heißt 
(z. B. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht 67), 
ebensowenig wie im Privatrechte bei bestrittenem 
Eigentumsanspruche ein Miteigentum der Prä- 
tendenten an dem Streitstücke angenommen wird. 
Es ist vielmehr ausdrücklich (und lediglich) eine 
MWMitverwaltung zwischen Preußen und Bel- 
gien vereinbart, mit der begreiflichen negativen 
Schranke, die hiervon die militärische Betätigung 
ausnimmt. Die Verwaltungspraxis hat allerdings 
der Auffassung eines Kondominats, das gegen 
beide Staaten eine gewisse Selbständigkeit wahrt, 
eine Zeitlang Nahrung gegeben, indem beide 
Staaten bis in die 40er Jahre des 19. Jahrh. eine 
besondere Auswanderungserlaubnis für solche 
Staatsangehörige, die nach M. zogen, erteilten 
und die Einwohner von M. nicht zum Heeres- 
dienste heranzogen. Ein andermal hat sich amt- 
  
liche Ausdrucksweise in der Wendung „gemein- 
die schaftliche Untertanen“ gefallen (V v. 12. 11. 83 
über die Zollverhältnisse). Schließlich läßt aber 
eine Abwägung des Verhaltens beider Staaten, 
wie es während eines Jahrhunderts auf Grund 
des Grenzvertrags von 1816 geübt worden ist, 
als Grundzug erkennen, daß jeder Staat Neutral- 
M. sich gegenüber nicht durchweg als 
Ausland behandelt. Die wichtigste Jol- 
gerung zeigt sich für die Erhaltung der Staats- 
angehörigkeit der Ueberwandernden und für ihre 
Militärpflicht. „Inland“ ist es deshalb nicht 
schon geworden. Also sind auch die Bewohner 
im Jahre 1816 nicht Staatsangehörige eines der 
beiden Staaten geworden (Folge z. B. für Aus- 
weisung (VI; dazu Neumeyer, Internat. Verw- 
Recht 1 1910 S8), und M. ist „Ausland“ im 
Sinne des 8 4 StGB. 
Das ist nicht gegen den Sinn der „Mitverwal- 
tung“; freilich eine in sich nicht klare Rechtslage, 
bei ihrer Vereinbarung als Notbehelf auf kurze Zeit 
gedacht, und bei deren Ausgestaltung man als festen 
Punkt nur das Bestreben verfolgen kann: sich nach 
Möglichkeit nicht von dem Zustande des Jahres 
1815 (damaliges französisches Recht) zu entfernen. 
— Die Unzuträglichkeit ist offensichtlich. 
8 4. Praxis der Verwaltung. 
1. Eine Gesetzgebung könnte nur durch 
beide Staaten gemeinsam erfolgen. (Die Regle- 
ments über die Gemeinde--Einkommensteuer v. 3. 
10. 59, die Hundesteuer v. 5. 11. 67, die Schank- 
steuer v. 1. 9. 94, sowie die Verordnung über 
Handel und Verkehr mit Schlachtfleisch v. 30. 6. 96 
sind sowohl brteh den König von Preußen als 
durch den König der Belgier genehmigt.) 
2. Organisation der Behörden. Die 
Aussicht über die Verwaltung führen gemein- 
schaftlich je ein Kommissar der preußischen 
und der belgischen Regierung, d. i. der Landrat 
von Eupen (Vfg des Min Inn u. d. Fin. v. 17. 6. 
1841) und (zur Zeit) der Kommissaire d'arrondisse- 
ment zu Verviers. Grundsätzlich werden sie noch 
wie die Präfekten des ersten französischen Kaiser- 
reichs nach dem G v. 28. pluviêse des Jahres VIII. 
(17. 2. 1800) tätig. In Gemeinschaft steht ihnen 
deshalb auch der Erlaß von Pol Verordnungen zu 
(bisher im wesentlichen gegen Schankwirtschaften). 
Die Verwaltung führt ein von den Kommissa- 
ren ernannter Bürgermeister (zur Zeit der 
Bürgermeister von Preußisch-M.); neben ihm steht 
mit beratender Stimme ein Gemeinderat 
von 10 Mitgliedern, die auf Vorschlag des Bürger- 
meisters aus den Bürgern von Neutral-M., ohne 
Rücksicht auf ihre Herstammung berufen werden. 
Bürgermeister wie Mitglieder des Gemeinderats 
sind ohne Zeitgrenze bestellt und jederzeit absetzbar. 
Als Polizeibeamte können auch die Gendarmen 
beider Staaten (aus Preußisch-M. und aus 
Montzen in Belgien) tätig werden. 
3. Justiz und Polizei. Es gilt das (fran- 
zösische) Recht in dem Zustande wie 1815, also auch 
der code pénal (in seiner ursprünglichen Fassung): 
z. B. a 410 (Spielhäuser); gegen die Härten (z. B. 
Betteln nach à 274—276 bis zu 2 Jahren Gefäng- 
nis) muß die Begnadigung helfen. Klagen und An- 
klagen können sowohl vor den preußischen Gerichten 
(AG Eupen, LG Aachen) als vor den belgischen 
(juge de paix in Aubel, tribunal in Verviers) er- 
hoben werden. Strassachen werden überwiegend
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.