Tarifvertrag
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§ 6. Rechtswirkung.
I. Es mag sein, daß im Anfang der Tarifbewe-
gung die Parteien lediglich an eine soziale Bin-
dung dachten; jetzt haben Arbeitgeber und Ar-
beiter den Willen, durch T. rechtswirksame Ab-
kommen zu treffen. Die Rechtsprechung schwankte
zuerst. Zunächst verwarf man entweder jede
Rechtswirksamkeit oder setzte sie grundsätzlich als
selbstverständlich voraus. Nunmehr wird wohl
regelmäßig in Literatur wie durch die Rechtspre-
chung der T. als ein vollgültiger privatrechtlicher
Vertrag angesehen, — bezüglich des „unbegrenz-
ten Kollektivvertrages“ (Baum, Beiträge zur Er-
läuterung des deutschen Rechts 49, 268 ff) herr-
schen freilich Zweifel. (Ueber das Reichsgericht
und die T. siehe „Gewerbe= und Kaufmanns-
gericht" XV, S172 ff, 181 ff, und DJ8 XV, 497f.
Dazu Oppenheimer, Das Einigungswesen 42 ff.)
Ein erheblicher Streit ist entbrannt über die
Theorie von der „Unabdingbarkeit“" der
T., die besonders Lotmar vertritt. „De lege lata
ist bei dem Gegenüberstehen verschiedener Rechts-
anschauungen eine Klarheit bisher nicht vorhanden,
zumal auch die Gerichtspraxis nicht einheitlich
ist" (Beiträge zur Arbeiterstatistik Nr. 3, Bd. I,
66). Um den T. rechtsverbindlich und unabding-
bar zu machen, wird er manchmal in die Arbeits-
ordnung (§ 1346 GewO) aufgenommen. De lege
lata dürfte jedoch von einer absoluten Wirkung
der T. nicht gesprochen werden können. Die
Reichsregierung wird ohne weiteres kaum sich
für die Unabdingbarkeit der T. erklären (v. Beth-
mann-Hollweg in der RISitzung v. 5. 2. 09).
Wertvoller für die Rechtswirksamkeit der T. als
die Unabdingbarkeit derselben wäre die Beseiti-
gung des & 152 Abs 2 GewO, der den Treubruch
billigt (# Koalition l. Der Hitzesche Antrag in der
Gewerbeordnungskommission, der dem ominösen
Absatz des 3 152 GewO wenigstens zum Besten
der T. die vernichtende Kraft nimmt, würde einen
Schritt vorwärts bedeuten (Dokumente des Fort-
schritts, 2. Jahr, 5. Heft, 361 ff). Eine vollstän-
dige Löschung der §§ 152, 153 GewO kann mit
Rücksicht auf eine machtvolle Opposition zurzeit
nicht erhofft werden.
II. Träder der Rechte und Pflich-
ten. Schwierigkeiten sind, soweit Einzelper-
sonen in Betracht kommen, nicht vorhanden,
anders bei Berufsvereinen. Sie sind entweder
Selbstkontrahenten des T. oder sie vertreten.
nur ihre Mitglieder oder sie verpflichten sich
und ihre Mitglieder (Verbandstheorie, Vertre-
tungstheorie, kombinierte Theorie). Sinzheimer
ist mit guten Gründen für die Verbandstheorie.
Als hauptsächlichster Vertreter der kombinierten
Theorie ist Rundstein zu nennen.
Jedenfalls wird man zugeben müssen, daß bei
Generaltarifen die Verbandstheorie vorzuziehen
ist. Der Arbeitgeberbund für das Baugewerbe
(Aussperrung der Arbeiter 1910 — Gewerbe= und
Kaufmannsgericht XV, 169) vertritt die reine
Verbandstheorie; dazu Denkschrift der 4 Arbeiter-
organisationen über die Tarifbewegung im deut-
schen Baugewerbe 1910.
III. Werden Dritte durch den T. ver-
pflichtet?" Bei Gesetzesvorschlägen für den
T. in Deutschland und im Auslande stößt man
stets auf Bestimmungen, welche die Minorität der
Majorität unterordnen. In der australischen Ge-
setzgebung ist ausdrücklich der Geltungsbereich der
T. auf Personen, die in dem Vertragsabschluß
nicht inbegriffen werden, ausgedehnt. Ueberall,
auch in Deutschland, geht die Tendenz der T. da-
hin, innerhalb ihres festgesetzten Gebietes zu aus-
nahmsloser Geltung zu kommen. Dennoch muß
zurzeit behauptet werden, daß ohne Gesetz den
Dritten, die mit dem T. nichts zu tun hatten,
Verbindlichkeiten aus ihm nicht auferlegt werden
können. Der T. beeinflußt freilich die Arbeits-
verhältnisse Dritter, wenn auf Grund desselben
sich ein Brauch entwickelt hat.
IV. Sollen die vertragschließen-
den Berufsvereine aus Verletzungen
des T. für sich und ihre Mitglieder haften?
Nach den Erklärungen der Reichsregierung und
einzelner Parteiführer im Reichstage wird bei
einer gesetzlichen Regelung der T. eine bestimmte
Schadensersatzpflicht für Verfehlungen gegen
diese Verträge den Berufsvereinen auferlegt
werden. Man ist sich aber im allgemeinen dar-
über einig, daß eine volle Haftung der Be-
rufsvereine mit ihren Vermögen für Ver-
trags verletzungen, die von einem der kon-
trahierenden Vereine selbst oder von einzelnen
Mitgliedern derselben begangen werden und ver-
mögensrechtliche Nachteile für den anderen Ver-
band oder für Mitglieder desselben hervorriefen,
nicht angängig und durchführbar ist. In der oben
erwähnten „Vorlage für Arbeitstarifverträge“
heißt es daher auch: „Die von den Unterzeichnern
des Vertrages vertretenen Verbände (und ihre
Mitglieder) haften für die Innehaltung des Ver-
trages und die Befolgung der Entscheidungen der
Tarifstellen und des Tarifamts durch den Ver-
band (wie durch dessen einzelne Mitglieder) mit
ihrem Gesellschaftsvermögen bis zum Betrage
von .. "“. Die Vorlage beschränkt die Haft-
pflicht der Verbände auf die von den Parteien
vorgesehenen Fälle und auf die vereinbarten Ver-
tragsstrafen.
Viele Verbände sind heutzutage in Deutschland
meist ohne Rechtsfähigkeit. Die Verfolgbarkeit
von Schadensansprüchen ist deshalb erschwert.
Da der 5152 Abs2 GewO überdies den Mitgliedern
der Bernfsvereine erlaubt, jeden Augenblick aus
der Organisation auszutreten, und zwar ohne
irgendeine Verantwortlichkeit für die von den.
Vereinen eingegangenen Verpflichtungen, würde
es ein Unrecht sein, die Vereine so wie Einzelper-
sonen bei Schadenszufügungen haften zu lassen.
Ueber die Frage, ob Ansprüche aus dem T. klag-
bar sind und ob daraus ein einzelnes Verbands-
mitglied Ansprüche gegen den gegnerischen Ver-
band geltend machen kann, siehe Urteil des Reichs-
gerichts, 6. Zivilsenat, v. 20. 1. 10 (DJ3 XV, 313
und Gewerbe= und Kaufmannsgericht XV, 181 ff).
Dazu Archiv für Sozialwissenschaft und Sozial-
politik VI, 76 Anm. 28. Ueber die Rechts-
fähigkeit der Tarifverbände .
Bewer in „Das Einigungsamt"“, I. Jahrg., 294 ff.
Vgl. noch über tarifliche Schiedsgerichte und
Einigungsämter Band II, 264 ff (Art. Gewerbe-
gericht) und Schall 182 ff.
Literatur (außer der bereits im Texte angegebenen):
Aus der Praxis des Gewerbegerichts Berlin, 387 ff; Bei-
tröge zur Arbeiterstatistik, Nr. 3—5 „Die T. im Deutschen
Reich"; Nr. 8 „Die Weiterbildung des Tarifvertrags im