8.5. Deutsches Staatsrecht. 11
In ihrer Darstellung kann sie zwar grösstentheils nicht
das Ziel verfolgen, imperative Sätze von unmittelbar
verbindlicher Kraft zu gewinnen, aber sie kann den
historisch sittlichen Gehalt der einzelnen, in jedem
Partikularstaatsrechte wiederkehrenden Rechtssätze und
Rechtsinstitute in einer Weise herausstellen, in der diess
eine nur dem Letzteren gewidmete Betrachtung nicht
zu leisten vermöchte.* Vom Standpunkte des prakti-
schen Nutzens aus angesehen erscheint mithin die Wis-
senschaft des deutschen Staatsrechts als eine Einleitung
zu allen einzelnen deutschen Staatsrechten, in welcher
früher das System des französischen Liberalismus für deutsches
Staatsrecht ausgab, jetzt nicht selten deutsches Staatsrecht mit
völliger Geringschätzung vaterländischer Entwickelungen aus dem
s. g. englischen Musterstaatsrechte entlehnt wird, — freilich nur
insoweit, als es nach dem politischen Standpunkte des Einzelnen
für übertragungswürdig angesehen wird.
4 Diese Auffassung des Begriffs eines gemeinen deutschen
Staatsrechts ist ähnlich derjenigen, welche ich für das deutsche
Privatrecht nachgewiesen habe (System $. 6... Ein Unterschied
möchte nur insofern bestehen, als die hier in Anspruch genom-
mene materielle Einheit beim Privatrechte in noch entschiedene-
rem Maase vorhanden ist, indem die fortwährende Einwirkung des
gemeinsamen nationalen Geistes auf die Erzeugung des Privat-
rechts weit weniger durch die staatliche Vielheit gekreuzt wird,
als diess bei der Produktion des staatsrechtlichen Stoffs der Fall
ist; denn diese dient ja recht eigentlich dem Ausbau der partiku-
lären Selbständigkeit. Etwas zu scharf ist diess indessen hervor-
gehoben in meiner Schrift über öffentliche Rechte S. 11 flg. Eine
Anomalie bleibt es freilich immer, dass die deutsche Wissenschaft
genöthigt wird, aus den Partikularrechten einen Rechtsstoff
künstlich auszuscheiden, um ihn ohne imperative Bedeutung, also
ohne die naturgemässe Spitze jeder juristischen Darstellung, zu
entwickeln. Esist ein Zwiespalt, der genau dem Umstande ent-
spricht, dass sich der Begriff des deutschen Volks und seine
staatliche Organisation nicht, oder wenigstens nicht vollständig
decken.