32 Erster Abschnitt.
Gemeinlebens gerichteten Staatswillens von dem Gebiete
der individuellen Freiheit scheidet.? Auch ist nicht zu
verkennen, dass verschiedene Völker ein verschiedenes
Mass der Ansprüche an die Leistungen der Staatsgewalt
haben, je nachdem ihre sittliche Anlage mehr oder
weniger dazu drängt und befähigt, gewisse Interessen
des Volkslebens ohne Mitwirkung des Staats in freier
Selbstbestimmung zu befriedigen.* Indessen bedarf es in
einem lebensvollen Staate auch nur selten des Rückgriffs
auf die allgemeine theoretische Ansicht vom Staats-
zwecke, um die Gränzen der Staatsgewalt ım einzelnen
Falle zu bestimmen, da die Vorstellung eines Volks
darüber bereits in der Gesetzgebung selbst ihren prak-
tischen Ausdruck gefunden hat und fort und fort findet.
3 Die Erwartungen, welche Mohl (Aegidi’s Zeitschr. I. S. 369.)
an eine theoretische Definirung des Staatszwecks für den ge-
sammten materiellen Inhalt des positiven Staatsrechts knüpft,
sind nach meinem Dafürhalten durchaus unbegründet; die in
diesem $ enthaltenen Ausführungen darüber scheinen ihm bei
seinem Raisonnement entgangen zu sein.
4 Die Art, wie ein Volk sein Verhältniss zum Staate ansieht,
wie es insbesondere den Umfang der Selbstverwaltung seiner
öffentlichen Angelegenheiten bestimmt und ein Uebermass des
Eindringens der Staatsthätigkeit abwehrt, beruht nur zum kleineren
Theile auf rationeller Ueberlegung, ist grösstentheils das ge-
schichtliche Produkt seiner sittlichen Charakteranlage und seiner
Befähigung zu bürgerlicher Selbständigkeit. Das Anpreisen der
Vorzüge eines Systems der Selbstverwaltung wird gegenüber
einem Volke, dem jene Anlage abgeht, nur selten eine grundsätz-
liche Aenderung hervorbringen. Die gesetzliche Einführung
einer auf einem doktrinären System der Selbstverwaltung be-
ruhenden Organisation aber wird immer problematisch bleiben bis
sich auch thatsächlich erweist, dass sie dem Charakter des
Volks wirklich entspricht und von ihm gemäss ihrer Idee ergriffen
und gedeihlich ausgeführt wird.