Hermann Rehm, Politik als Wissenschaft. — Ihre Zweige. 9
sich durchzusetzen. Die genannten Wissenszweige dienen daher gerade dem in Staatssachen
Handelnden. Er aber heisst Politiker (Staatsmann). Sie sind die Wissenschaften für den Staatsmann.
Wenn Politik nur im Sinne von Zweckmässigkeitslehre gebraucht wird, so findet dies seine Er-
klärung darin, dass die Politik von jeher in erster Linie Zweckmässigkeitslehre war.
Die Griechen erblickten in der Politik einen Teil der Ethik.!) Sittlich ist, ein tüchtiger
Staatsbürger zu sein. Der sittliche Staatsbürger ist der tüchtige. Politik war deshalb vor allem die
Lehre von dem besten Staatsbürger. So bleibt es auch im Mittelalter und der Renaissancezeit.
Ars politica ist wesentlich Tüchtigkeitslehre, nur der veränderten Staatsform entsprechend nicht
mehr Lehre vom tüchtigen Staatsbürger, sondern vom tüchtigen Fürsten. Die Werke von Thomas
Aquinas (+ 1274) De regimine principum und Machiavelli Il principe sind Fürstenspiegel. Zwischen
Machiavelli einer- und Aristoteles und dem Aquinaten andrerseits besteht nur der Unterschied,
dass Machiavelli seine Zweckmässigkeitslehre von Ethik und Theologie gelöst hat.) Im übrigen
aber behandeln alle drei die Probleme in gleicher Weise. Die Einteilung der Staatsfornem z. B.
erfolgt sowohl bei Aristoteles und Thomas Aquinas wie bei Machivelli nach Zweckmässigkeits-
momenten. Wesentlich sind ihnen nicht Zahlen-, sondern Eigenschaftsunterschiede. Die grie-
chische Staatslehre sieht auf die sittlichen Unterschiede. Für zweckmässig erklärt sie, dass die
Regierenden die Herrschaft im Gemein- und nicht in selbstsüchtigem Interesse ausüben. Sie unter-
scheidet darnach rechte Verfassungen und Abweichungen hiervon; Politien und Despotien, drei
gute Verfassungen und drei schlechte.) Machiavelli teilt ein in Prinzipate und Republiken. Er
will damit sagen: unfreie und freie Staaten. Das ist durchaus aristotelisch. Aristoteles lehrt: Frei-
heit ist, wo nicht Selbstsucht herrscht; Selbstsucht herrscht nicht, wo die Trefflichsten herrschen;
solche gibt es nicht; also ist nur Volksherrschaft möglich und diese ist selbstlos lediglich, wenn Ge-
setze herrschen. Das monarchisch gerichtete Mittelalter sagt: lex facit „regem‘ d. h. den guten
Herrscher; ein guter Fürst ist der Herrscher, der sich an Gesetze hält.t) Und ebenso lehrt Machia-
velli: besitzt der Staat eine gute Rechtsordnung g, so bedarf es nicht so guter Regenten.) Durch
Jahrhunderte also Zweckmässigkeitslehre der Hauptteil der Politik. Da liegt es nahe, dass der
Name des Ganzen zum besonderen Namen des Hauptteiles wird.
C) Die wissenschaftliche Klarheit verlangt, dass, wenn möglich, Politik als Wissenschaft
nur Eines bedeutet. Dem trägt die Theorie etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Rechnung.
Mehr und mehr wird unter Politik nur die Zweckmässigkeitslehre verstanden (Bluntschli, Holtzen-
dorff). Alles, was man sonst Politik nannte, muss dann anders bezeichnet werden. Ein Nam:
hat sich dafür eingebürgert: allgemeine Staatslehre. Den Gegensatz bilden die be-
sonderen Staatslehren, die empirische (historische) und philosophische, die politische und die
Juristische. Fest steht der Sprachgebrauch nicht. Roscher und Treitschke sagen nicht allgemein:
Staatslehre, sondern Politik. Gierke identifiziert gerade entgegengesetzt „Staatslehre‘‘ und Politik.
Die Staatslehre, bemerkt er, fasst alle Vorgänge des Staatslebens unter dem Gesichtspunkte einer
Zwecktätigkeit auf.) Vorkommt auch, dass für allgemeine Staatslehre Staatslehre gesagt
und ihr Politik und Staatsrecht gegenüber gestellt wird.
D) Gar nicht beranziehen zur klaren Abgrenzung der Gebiete der politischen Wissenschaft
lässt sich der Ausdruck Staatswissenschaft (science politique, political science). Staats-
wissenschaft hat noch mehr Bedeutungen als Politik und Staatslehre. Es ist darunter zu verstehen
1. das Wissen vom Staate, die Wissenschaft, deren Gegenstand der Staat und nur der Staat
ist. Ihre Teile sind Staatsrechtslehre, Politik, allgemeine Staatslehre (Verfassungslehre) und Ver-
waltungslehre.
1) Rehm, Geschichte der Staatsrechtswissenschaft 1896, S. 70, 71, 126.
2) Menzel, Machiavelli Studien in Grünhuts Zeitschrift für Privat- und öffentl. Recht 29, 566.
3) Über Thomas Aquinas Rehm, Geschichte der Stastsrechtsw. S. 179.
4%) Rehm, Allgemeine Stastslehre 1899 S. 211.
°) Alfr. Schmidt, Machiavelli und die allgemeine Staatslehre. 1907 S. 3, 40 ff.
°) O.Gierke, Begriff und Aufgaben der staatswissenschaft. Fortbildung in de- Internationalen Wuchen-
schrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 4 (1910), 489.