Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. 201 
Theologie; der christliche Glaube wurde als dogmatisches Ganzes aufgestellt, 
ohne die Freiheit der Gemeinde zu beschränken, bis die Concilien für ihre 
dogmatischen Beschlüsse göttliche Autorität in Anspruch nahmen. Lange Kämpfe 
um des Dogmas willen waren die Folge, aus denen die Hierarchie im Bunde 
mit der Staatsgewalt siegreich hervorging. Während aber die Dogmen immer 
nur Produkte der Reflexion sind und daher das Gepräge ihrer Zeit an sich 
tragen, wurden dieselben zu ausschließlicher Verbindlichkeit erhoben und so 
durch die öcumenischen Bekenntnisse die Herrschaft des Dogmatismus in der 
christlichen Kirche und damit der Gegensatz zwischen Orthodoxie und Häresie 
gegeben. Um dogmatischer Differenzen willen begann in der Kirche der Krank- 
heitsproceß der Zersetzung, bis im 11. Jahrhundert die große Spaltung 
zwischen der morgenländischen und der abendländischen Kirche eintrat. Während 
die griechische Kirche bald in Stagnation verfiel, dauerte der Zersetzungspro- 
ceß der römischen Kirche fort, begleitet von dem sittlichen Verfall ihrer An- 
hänger und der furchtbarsten Verfolgungssucht gegen die Ketzer. Endlich erhob 
sich das christliche Gewissen in der Reformation, die das unveräußerliche Recht 
der Freiheit in Christo gegen die Tyrannei der alten Kirche geltend machte. 
Aber es gelang ihr nicht, den neuen Dogmatismus ganz zu beseitigen, da 
derselbe zu tief in das geistliche Zeitbewußtsein eingedrungen war. Es ent- 
wickelte sich ein rascher reformatorischer Kampf, und was in demselben ge- 
wonnen und festgestellt war, das glaubte man der römischen Kirche als dog- 
matische Wahrheit gegenlber und für die eigene Kirche als Bekenntniß hin- 
stellen zu sollen. Aber auch unter den Reformatoren selbst kam es bald zu 
Differenzen über die Auslegung des Schriftworts, dessen lutherische Auslegung 
in der Concordienformel so schroff formulirt wurde, daß eine unheilvolle 
Spaltung im Schooße der evangelischen Kirche unausbleiblich war. Und in 
der lutherischen Kirche gelangte der Dogmatismus alsbald zu neuer Herrschaft, 
die um so anspruchsvoller geübt wurde, als sie sich für ihre Berechtigung auf 
das Wort der heiligen Schrift berief. Die Unduldsamkeit des altlutherischen 
Zelotismus gegen alle anders Denkenden ist nicht minder widerwärtig, als der 
katholische Fanatismus, zumal es auch ihm nur auf die reine Lehre, nicht 
aber auf das reine Leben und die Hebung der Sittlichkeit ankommt. Weniger 
strenge tritt er freilich in der reformirten Kirche auf, aber wo dieselbe stark 
genug ist, verdrängt auch sie anders Denkende aus ihrer Mitte. Der prote- 
stantische Dogmatismus ist deßhalb so unleidlich, weil er einen Abfall von 
dem protestantischen Princip einschließt, während im Unfehlbarkeitsdogma der 
katholische Dogmatismus sich nur consequent aus seiner eigensten Natur heraus 
fortentwickelt hat. Aber als gemeinsames Resultat des Zusammenwirkens der 
geistigen Potenzen des deutschen Volkes entwickelte sich eine neue Theologie, 
vor deren Kritik der protestantische Dogmatismus nicht bestehen konnte. Die 
allgemeine Zustimmung, welche der von dieser neuern Geistesrichtung angeregte 
Unionsgedanke fand, half denselben bald in die praktische Wirklichkeit Über- 
tragen, und seitdem hat die evangelische Kirche, ohne Unterscheidung der lu- 
therischen und der reformirten Kirche, fortgefahren, den orthodoxen Dogma- 
tismus zu bekämpfen. Differenzen in der Dogmatik bedeuten keine kirchliche 
Spaltung und Glaubens= und Gewissenszwang ist für den echten evangelischen 
Christen eine Unmöglichkeit. Gleichwohl hat die Union in ihrem Hauptlande, 
in Preußen, nach dem Hinscheiden ihrer Stifter das Schicksal gehabt, von 
den Anhängern des orthodoxen Lutherthums in ihrer Entwickelung aufgehal- 
ten zu werden. Der Radikalismus und Socialismus trugen dazu bei, die 
politische und durch diese die kirchliche Reaktion zu fördern, die in Kirche, 
Schule und Haus das lutherische Bekenntniß wieder zur Anerkennung bringen 
wollte. Hand in Hand mit den (katholisirenden" Orthodoxen kämpfen die 
Anhänger der „positiven Union“ für das Bekenntniß, das sie trotz der Ver- 
einigung aufrecht erhalten wollen. Die Behörden leihen den Orthodoxen ihre 
Unterstützung in diesem Kampfe, indem sie die Gegner der Bekenntnisse disci-
	        
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