180 Drittes Kapitel.
bunden, als jedes einfache Reichsgesetz. Hierfür entscheidet
aber Artikel 5:
„Die Reichsgesetzgebung wird ausgeübt durch den Reichs-
rath und den Reichstag. Die Uebereinstimmung der Mehr-
heitsbeschlüsse beider Versammlungen ist zu einem Reichs-
gesetze erforderlich und ausreichend“, und Art. 2:
:„Die Reichsgesetze erhalten ihre verbindliche Kraft durch
ihre Verkündigung von Reichswegen.“
Wenn nun der Grundsatz, „dass die Reichsgesetze den
Landesgesetzen vorgehn“, die rechtliche Möglichkeit aus-
schliesst, dass die Landesgesetzgebung die Gültigkeit irgend
eines Reichsgesetzes an irgend ein anderes Erforderniss bindet,
als die Reichsverfassung vorschreibt, so tritt hier im Vergleich
mit der nordamerikanischen und schweizerischen Bundesver-
fassung die Eigenthümlichkeit der deutschen Reichsverfassung
hervor. Sie kennt und duldet auch für verfassungsändernde
Gesetze keine Mitwirkung der Einzellegislaturen, als Bedin-
gung ihrer Gültigkeit.
Wie daher jeder Anspruch derEinzellegislatur aufein Recht
nachträglicher Zustimmung zu irgend einem Akte der
Reichsgesetzgebung nichtig ist, so ist nicht minder jedes Lan-
desgesetz reichsverfassungswidrig, welches die Abgabe der
Stimme des Einzelstaates im Bundesratheandie vorgängige
Genehmigung des Landtages binden will, wenn dadurch irgend
wie die rechtliche Gültigkeit des verfassungsändernden
Reichsgesetzes bedingt werden soll, sei es überhaupt, sei es
für denjenigen Einzelstaat”®, dessen Landtag dissentirte
oder nicht gehört wurde. Ja es muss ein Landesgesetz als
nichtig gelten, welches feststellt, dass der Fall der ministe-
riellen Verantwortlichkeit dann ohne Weiteres eintritt, wenn
die Stimme des Bundesstaates für irgend eine, unter das Ali-
nea 1 des Artikel 78 fallende Verfassungsänderung ohne vor-
gängige Genehmigung des Landtages abgegeben wird. Denn
da die rechtliche Zulässigkeit eines solthen Landesgesetzes,
73 So der Antrag Sedlmayr (Note 72) und Allgemeine Ztg. 1871. No. 350.