Full text: Studien zum Deutschen Staatsrechte. Erster Band. Die vertragsmäßigen Elemente der Deutschen Reichsverfassung. (1)

188 Drittes Kapitel. 
forderniss der vertragsmässigen Stimmeneinhelligkeitin seinem 
weit umfassenden Bereiche. Eine Weiterbildung der Lehre 
von den jura singulorum gegenüber dem ehemaligen Reichs- 
rechte ist daher nicht erfolgt, wenn man dahin die rechtliche 
Anerkennung des theoretischen Postulates nicht rechnen will, 
dass überall da, wo jura singulorum zugebilligt sind, es nicht 
auf die Frage der Stimmenmehrheit oder Stimmeneinhelligkeit 
in diesem oder jenem Rathe ankomme, sondern auf die „freie 
Zustimmung sämmtlicher Betheiligten“. 
Wiederum nimmtdas deutsche Reich dasRecht staat- 
licher Gesetzgebung für sich in Anspruch. Es dehnt dasselbe 
aus auf Verfassungsänderungen schlechthin und selbst auf die 
Erweiterung seiner eigenen Kompetenz. Die Frage der jura 
singulorum gewinnt damit wiederum eine erhöhte Bedeutung. 
Hier schlägt denn nach dem äussern Anscheine das Ali- 
nea 2 des Artikel 78 der RV. ein: 
„Diejenigen Vorschriften der Reichsverfassung, durch 
welche bestimmte Rechte einzelner Bundesstaaten in deren 
Verhältniss zur Gesammtheit festgestellt sind, können nur mit 
Zustimmung des berechtigten Bundesstaates abgeändert 
werden‘. 
In der That ist es zweifellos, dass damit dem Erfolge 
nach Rechten der Einzelsstaaten ein besonderes Schutzmittel 
gewährt werden soll. Aber nicht minder zweifellos ist es, 
dass das Schutzmittel selbst der Frage eine andere Wendung 
giebt und sie in einen neuen Zusammenhang rückt. 
Das ehemalige Reichsrecht und die Grundverträge des 
deutschen Bundes gingen davon aus, gewisse Gegenstände 
oder gewisse Rechte der Reichs- und Bundesglieder den 
Majoritätsbeschlüssen der beschliessenden Organe der Ge- 
sammtheit zu entrücken. 
Das jetzt entscheidende Alinea 2 spricht lediglich von 
besondern Vorschriften derReichsverfassung und von den 
besondern Formen ihrer Abänderung. 
Der Versuch aufGrund der heutigen Reichsverfassung ge- 
wisse Rechte der Einzelstaaten ihrer materiellen Beschaffen-
	        
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