Die einzelnen Bestimmungen der deutschen Reichsverfassung. 189
heit nach begriffsmässig oder im Einzelnen festzustellen, um
sie auf Grund dieser ihrer materiellen Beschaffenheit den Er-
fordernissen der einfachen oder verfassungsändernden Gesetz-
gebung des Reiches zu entziehn und sie unter den Schutz des
Alinea 2 zu stellen, widerspricht dem klaren Wortlaute und
dem unzweideutigen Sinne, welchen dasselbe in seinen Zu-
sammenhang mit dem ersten Alinea des Artikel 78 gewinnt.
Selbst wenn das geschehn wäre, was nicht geschehn ist, selbst
wenn Theorie und Praxis des alten Reichs- und Bundesrechtes
zu einer vollen Präzisirung dessen, was unter jura singulorum
materiell zu verstehn sei, geführt hätten, sie würden für
uns werthlos sein oder sie würden doch nur den Werth eines
Fingerzeiges zur Auffindung der formellen Vorschriften
besitzen, um die es sich allein handelt.
Noch weiter abseits liegt die Frage, welche materiellen
und formellen Schranken die Reichsgesetzgebung einzuhalten
habe, wenn zur Durchführung zuständiger Kompetenzen und
ohne Abänderung irgend welcher Verfassungsvorschriften den
Einzelstaaten Opfer an Eigenthum und wohlerworbenen
Rechten angesonnen werden.
Es handelt sich nur um Vorschriften und zwar um
Vorschriften der Verfassung. Das sind solche Vor-
schriften, welchedie Verfassungsurkunde enthältoder welche
kraft besonderer Bestimmung der Verfassung als ihr gleich-
werthig erklärt worden sind. Wenn daher in den Protokollen
und Verhandlungen, welche nach $ 3. des Gesetzes vom 16. April
1871 neben und ausserhalb der Verfassung in derFormdes
Vertrages fortgelten, besondere Zusicherungen an die Einzel-
staaten gemacht worden sind, so fallen dieselben an sich nicht
unter das Alinea 2 des Artikel78. Ihre rechtliche Bedeutung
bedarf einer besondern Untersuchung.
Hiernach beschränkt sich die Aufgabe auf Feststellung
derjenigen Vorschriften derReichsverfassung, welche
das Alinea 2 des Artikel 78 trifft, und
derjenigen Formen ihrer Abänderung, welche dasselbe
vorschreibt.