Die einzelnen Bestimmungen der deutschen Reichsverfassung. 209
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Die Formen der Abänderung.
Es ist eine Minderzahl von Vorschriften der Verfassung,
welche unter die besondere Bestimmung des Alinea 2 des
Artikel 78 der Reichsverfassung fallen. Die für dieselben
festgestellten begrifflichen Merkmale decken keineswegs, wie
beansprucht worden ist, den Umfang des materiellen Begriffes
der jura singulerum, wie ihn etwa der Westphälische Frieden
oder die Wiener Schlussakte feststellten. Die getroffenen
Verfassungsvorschriften berühren nicht die allgemeinen, allen
gemeinsamen Bedingungen der Existenz der Einzelstaaten.
Sie haben, selbst als unveränderlich gedacht, einen nur unter-
geordneten politischen Werth für den Einzelstaat im Verhält-
niss zu der rechtlichen Möglichkeit, die Kompetenzen des
Reiches und die Stellung der Einzelstaaten in den Organen
für die Willensbildung der Gesammtheit abzuändern.
Immerhin werden die Vorschriften des Alinea 2 die weit
umfassende Ermächtigung des Alinea 1 in irgend einen Sinne
begrenzen. Und wenn eine Abänderung dieser Begrenzung
an die Zustimmüang des Einzelstaates gebunden wird, so kanu
der erste Eindruck zu der Auffassung gelangen:
dass die unter Alinea 2 begriffenen Verfassungsvorschrif-
ten überhaupt und schlechthin der Kompetenz des Reiches zur
Gesetzgebung und zu Verfassungsänderungen entzogen sind;
dass die erforderliche Zustimmung des Einzelstaates nicht
ertheilt werde in seiner Eigenschaft als stimmberechtigtes
Mitglied des Bundesrathes, sondern in seiner Sonderstellung
vom Reiche als Einzelstaat;
dass mithin eine Abänderung jener Vorschriften nur er-
folgen könne im Wege des Vertrages des Einzelstaates als
solchen mit dem Reiche, gleichgültig ob der Vertragsschluss
geschähe in den hergebrachten feierlichen Formen des Völker-
rechtes oder in denen einer vertraulichen Verständigung im
Bundesrathe;
A. Haenel, Studien. I. 14