Gesetzgebung und vollziehende Gewalt. 55
Dieses Resultat setzte sich aber in Widerspruch mit Auf-
fassungen, welche sich zum Theil auf die Verfassung selbst,
auf die Bedeutung des Kaiserthumes als eines selbständigen,
auf eigenem Recht fussenden Organes des Reiches, zum Theil
darüber hinaus auf die Erhabenheit des Titels und auf die
Einwirkung monarchischer Traditionen in Deutschland stützten,
Auffassungen, welche den Kaiser zum Oberhaupte des Reiches,
zur Leitung der Reichspolitik im vollen Sinne berufen. Sie
konnten sich der isolirten Stellung der kaiserlichen Vollziehung
gegenüber der Gesetzgebung und ihren Organen nicht anbe-
quemen. Denn es liegt in der Natur des Bundesstaates, dass,
wenn er den Umschlag in den Einheitsstaat vermeiden will,
sein Hauptgewicht auf das Gebiet der Gesetzgebung fallen
muss. Seine unmittelbar vollziehende Gewalt wird sich immer
auf ein engeres Feld der auswärtigen Angelegenheiten, des
Militärwesens, der Veranstaltungen für den grossen Verkehr,
der engeren Finanzen begrenzen, welches den Umfang seiner
gesetzgeberischen Kompetenzen nicht deckt.
Diese Auffassungen sind es gewesen, die sich über den
engern Wortlaut der Verfassung hinaus Bahn gebrochen haben
in der stillschweigenden Zubilligung einer Initiative des Kai-
sers im Bundesrathe und in der unbestrittenen Vertretung
der kaiserlichen Gewalt im Reichstage; in ihrer Folgerichtig-
keit liegt es, dem Kaiser Sanktion und Veto im vollen kon-
stitutionellen Sinne beizulegen. Jener Vorgang beweist, dass
das, was die organische Natur der Dinge fordert, sich wohl
formell verweigern lässt, dass es sich aber schliesslich doch,
dann aber unter der Gefahr bedenklicher Krisen, durchsetzt.