Zwei Stunden nach der Audienz ließ mich der gestürzte Kanz-
ler rufen. Er empfing mich mit den Worten: „So, nun bin ich
frei und froh, ich habe bereits den Dienern gekündigt und den
Staatssekretären Abschiedsbesuche gemacht. Sobald als möglich fahre
ich nach der Schweiz und ziehe mich dann ganz aufs Land bei
meinen Nichten zurück. Wahrscheinlich wird Graf Eulenburg auch
entlassen werden und die unglückliche Trennung beider Posten auf—
hören 1).“ Gleich darauf bat er mich noch einmal zu sich, das
Wichtigste hatte er vergessen: seine letzte Bitte an den Preßreferen-
ten, nämlich allen Einfluß aufzubieten, damit sich die Blätter,
die ihm freundlich gesinnt waren, nicht gegen den Kaiser kehrten,
vielmehr als den tieferen Grund der Krisis seinen Zank mit dem
Grafen Eulenburg betrachteten. Sachlich, vornehm, sich selbst getreu
bis zum Ende!
Vereinzelt tauchte in der Presse der Gedanke auf, daß der
Inspirator des Artikels in der Kölnischen Zeitung in richtiger Vor-
aussicht seiner Wirkung auf den Kaiser den Sturz Caprivis zu
beschleunigen bezweckt habe. Aller Wahrscheinlichkeit nach war der
Artikel auf Holsteins Zimmer entstanden. Richtig ist auch, daßt
der Kanzler längst schon der Geschäftigkeit Holsteins mißtraute und
deutlichen Unmut merken ließ, wenn dieser sich in Dinge mischte,
die ihn nichts angingen. Gleichwohl glaube ich, daß der Artikel
nicht der Absicht, das Prävenire zu spielen, entsprang, sondern
ein Bärendienst war. Als Meister im Minieren, Vorbauen und
Festlegen war Herr v. Holstein immer sehr besorgt, sich vor neuen
Wendungen und Plötzlichkeiten zu schützen. Ob nach Caprivi wieder
ein so willfähriger Kanzler kommen würde, der ihm das aus-
wärtige Geschäft überließ, konnte er nicht wissen. Das spricht
dafür, daß er wirklich mit seinem hästigen Vorprellen die Stel-
lung Caprivis zu befestigen meinte und wider Willen das Gegen-
teil erreichte. Auch Kiderlen, der mit in Liebenberg war, und der
1) Graf Botho Eulenburg kam als Nachfolger des Fürsten Hohenlohe
auf dem Statthalterposten in Frage. Der neue Kanzler widersprach jedoch
dieser Kandidatur, die nach seiner Kenntnis der reichsländischen Verhältnisse
keinen günstigen Eindruck auf die Bevölkerung machen würde.
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