1) Wilhelm Kahl, Staat und Kirche,
Schwerter, das weltliche und das geistliche. Daher ist jede andere Gewalt von der päpstlichen
abgeleitet. Der Papst übt die Lehensoberherrlichkeit über alle christlichen Staaten, auch über das
deutsche Reich. Der deutsche Kaiser muss ihm folgerichtig den Vasalleneid leisten. Staat und Kirch
verhalten sich wie Körper und Geist, Mond und Sonne, Blei und Gold. Daher hat die Staatsgewalt
der Kirchengewalt in allem dienstbar zu sein. Sie muss der Kirche das weltliche Schwert, das
brachium saccnlare auf den Blick und nach Willen des Priesters zur Verfügung stellen. Der Kaiser
muss dem Papst den Steigbügel halten. Der Staat muss die katholische Glaubenseinheit bewahren,
muss die Urteile der kirchlichen Gerichte vollstrecken. Die Päpste ihrerseits haben das Recht,
Staatsgesetze aufzuheben, Könige zu entthronen und die Throne wieder zu besetzen. Von der Unter-
werfung unter diese Gewalt ist nach den Schlussworten der Bulle Unam Sanctam das ewige Seelen-
heil abhängig. Die notwendige reale Basis der päpstlichen Universalherrschaft endlich ist der
weltliche Herrschaftsbesitz, der Kirchenstaat. Er ist das Annex der königlichen Gewalt und zu-
gleich die als unentbehrlich geachtete Voraussetzung für die unbehinderte Ausübung der geistlichen.
Dieses kirchenpolitische System bezeichnet man passend als mittelalterliches Kirchenstaats-
tum. Der Staat eingeschlossen, umklammert vom Kirchentum. Der Kirchenstaat der Boden,
der es erzeugt, von dem aus es seine universelle Wirkung geübt, auf dem sich zuletzt sein Schicksal
erfüllt hat. Unter der freiwilligen Unterordnung der ganzen abendländischen Welt hat es sich drei
Jahrhunderte lang durchgesetzt.
Seit dem 14. Jahrhundert bereitet sich eine Umkehr der Herrschaftsverhältnisse vor. Der
weiteren tatsächlichen Verwirklichung des Kirchenstaatstums wurde je länger je mehr der Boden
entzogen. Renaissance, Reformation, Staatsabsolutismus zerstören die Bedingungen der päpst-
lichen Ein- und Alleinherrschaft. Es bildet und behauptet sich bis tief in das 18. Jahrhundert ein
kirchenpolitisches System, das man als Gegenbild des vorigen zutreffend mit Staatskirchen-
tum bezeichnet. Freilich nur eine Kollektivbezeichnung. Denn je nach der Eigenart von Staaten
und Herrscherpersönlichkeiten bot sich das System bei aller Einheit des Grundgedankens in un-
geme’n reicher geschichtlicher Ausprägung dar. Es reproduzieren und variieren sich in ihm die Ge-
danken des Byzantinismus. Von den mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Erscheinungs-
formen im Abendland seien drei genannt Unmittelbar die päpstliche Theokratie im alten deutschen
Reiche ablösend der Caesareopapismus zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert. Der
Kaiser selbst ist ein Papst. Er geht dem Papste vor. Das Problem von Staat und Kirche hat sich zu
einer Personenfrage zugespitzt. Der Kaiser, die Kurfürsten und anderen Fürsten haben ihre Gewalt
ebenfalls unmittelbar und selbständig von Gott. Diese Erkenntnis war von der Wissenschaft ge-
kommen. Dante, Marsilius von Padua waren die führenden Geister. In grossen geschichtlichen
Ereignissen trat der Umschwung der Machtverhältnisse hervor, im Siege Ludwigs des Bayern über
Johann XXII, in den Beschlüssen des Kurvereins zu Rense, in der goldenen Bulle, in der energi-
schen Zurückweisung der päpstlichen Machtansprüche durch die Landesherrn (Dux Cliviae est Papa
in suis terris), in den hundert Beschwerden endlich der deutschen Nation, in denen die weltlichen
Reichsstände drohen, die vom Papst vernachlässigte Verbesserung des Kirchenwesens selbst vorzu-
nehmen. Die centum gravamina stehen bereits an der Schwelle der Reformation. Diese ihrerseits
hat eine besondere Erscheinungsform des Staatskirchentums 'm sogenannten Territorialis-
m us der protestantischen Staatswesen gezeitigt. Seine Blütezeit liegt im 16. bis 18. Jahrhundert.
Seine Haupterkenntnisquelle sind die Kirchen- und Konsi-torialordnungen dieser Zeit. An sich
stand der Territorialismus durchaus im Widerspruch mit der Tatsache und den Prinzipien der
Reformation. Diese hatte die hierarchische Einheit der Kirche zerbrochen und den Staat zuerst
zwei, seit Ende des 16. Jahrhunderts drei Konfessionskirchen gegenübergestellt. Die folgerichtige
Entwickelung wäre schon damals der paritätische Staat und die sachliche Scheidung der staatlichen
und kirchlichen Zuständigkeitsgebiete gewesen. So mögen wir heute logisch kalkulieren. Aber in
der unendl.chen Kompliziertheit der geschichtlichen Realitäten lagen damals noch unermessliche
Hindernisse. Vor allem eines: Herrscher und Staaten waren in der Religionsfrage noch nicht ge-
schieden. Jene hatten, in zwei Lager geteilt, persönlich für und gegen die Reformation gekämpft.
In die gleichen Lager teilten sich, mit wenigen Ausnahmen, die Staaten selbst. Sie waren konfessio-
nell, katholische oder protestantische Religionsstaaten. Der Herrscher hatte das Bestimmungsrecht.