Wilhelm Kahl, Staat und Kirche, 9
Cujus regio ejus religio. So konnte sich der paritätische Staatsgedanke noch nicht festsetzen,
höchstens gab er mehr oder weniger weitgehende Duldung gegen Andersgläubige. Im ganzen blieb
die Einheit von Staat und Konfessionskirche. Die protestantische wurde in den Territorien ihres
Bekenntnisses Staatsanstalt Schon am Ende des 16. Jahrhunderts war im wesentlichen überall
gleich die protestantische Kirchengewalt mit der Staatsgewalt verbunden, die Kirche kein vom
Staat unterschiedener Lebenskreis. Der Staat herrscht über die Kirche. Alles dies gegen den Geist
der Reformation und gegen die Absicht der sächsischen Reformation, namentlich Luthers. ‚Man
soll geistliches und weltliches Regiment sondern, soweit als Himmel und Erde sind.‘ „Euer Kur-
fürstlichen Gnaden ist geistlich zu regieren nicht befohlen.‘‘ „Die Obrigkeit hat nichts ins Evan-
gelium hineinzureden.‘“ Aber diese grundsätzlichen Verwahrungen vermochten den Gang der Tat-
sachen nicht aufzuhalten. Indem Luther, unter Beziehung auf Kaiser Constantins Verhalten gegen
die Irrlehre der Arianer, von der weltlichen Obrigkeit den Schutz für den Bestand der reinen Lehre
forderte und Melanchthon ihr das Wächteramt über beide Gesetzestafeln vindizierte, war der Grund
zu derjenigen Tatsachenreihe gelegt, welche den Territorialismus begründete. Die Vermittelung
geschah durch die Begründung des landesherrlichen Kirchenregiments. Es war die in der Natur
der Sache gelegene Konsequenz, dass die Staatsgewalt, ihrem innersten Wesen folgend, die ihr
anvertraute Kirchengewalt nun auch nach ihrer eigenen Weise, mit ihren weltlichen Mitteln, und
in staatlichem Geiste handhabte. Daher das protestantische Staatskirchentum. Dieses hinwiederum
erzeugte eine Parallele in dem kirchlichen Staatsabsolutismus der katholischen Staaten,
der Anwendung desselben Beherrschungsprinzips auf die katholischen Landeskirchen im 17. und 18,
Jahrhundert. Charakteristische Typen dieser Erscheinungsform des Staatskirchentums bieten vor
anderen Frankreich, Bayern und Österreich. In Frankreich mit seinem Höhepunkt unter Ludwig
XIV, in Bayern unter den Kurfürsten Maximilian I und Maximilian Josef, in Österreich unter
Josef II. Überall bei erstaunlicher Mamigfaltigkeit der rechtlichen Ausbildung derselbe Grund-
gedanke und derselbe Erfolg: alles Kirchliche ist der Staatsidee untergeordnet. Das damals in Bayern
inaugurierte System hat ein Historiker treffend als „kirchliches Polizeiregiment‘“ charakterisiert.
Das ganze Gebiet der kirchlichen Gesetzgebung unter der Kontrolle des Staats, unter einem uner-
bittlichen mit Anwendung von Strafe und Temporaliensperre durchgesetzten Placet des Landesherrn,
die gesamte innerkirchliche Verwaltung der Bischöfe und Pfarrer unter der landesfürstlichen
Mitregierung. Das kirchliche Leben der Einzelnen staatlich strenge überwacht, jede Regung nicht
katholischen Bekenntnisses unerbittlich unterdrückt. Die Landesherrn, persönlich streng gläubige
Katholiken, hatten sich selbst in den Dienst der Kirche gestellt und suchten mit landesväterlicher
Strenge die Organe der Kirche bei ihren kirchlichen Pflichten zu erhalten. Ihr Regiment hatte nicht
eine die Freiheit der Kirche beschränkende Absicht, wohl aber fiel ihnen die Wohlfahrtspflege von
Staat und Kirche in eine Berufsaufgabe zusammen.
Im 19. Jahrhundert löst sich auch das Staatskirchentum. Einzelne Staaten waren der Zeit vor-
angeeilt. So namentlich Brandenburg-Preussen schon seit dem grossen Kurfürsten.
Der durch den Westfälischen Frieden von 1648 für das ältere deutsche Reich geschaffene
Rechtszustand gab den Städten und Fürsten durchaus die Freiheit, mit dem überlieferten System
der Einheit von Staat und Kirche zu brechen. Zwar bezog sich die in ihm gewährte Parität (exacta
mutuaque aequalitas) nur auf die Reichsunmittelbaren, die Reichsstände selbst. Zugleich aber gab
er diesen das Jus reformandi exereitium religionis in ihren Territorien. Sie gewannen damit das
Recht des Religionsbannes, der Duldung und der Aufnahme der drei christlichen Reichskonfessionen.
Je nachdem sie von diesem Reformationsrecht Gebrauch machten, konnten sie, wie in Österreich und
Bayern, den alten Konfessionsstaat erhalten, oder, wie in Brandenburg-Preussen, die Gleichbe-
rechtigung der Konfessionen schon jetzt durchführen. Beide, die engherzigen und die weitherzigen
konnten sich für ihre Religionspolitik gleichmässig auf das Grundgesetz des Reiches berufen. Den
grundsätzlichen Bruch mit dem System der Vergangenheit brachte in grossem Stil und vorbildlich
zuerst ds PreussischeAllgemeineLandrecht von 1794. Sein staatskirchenrecht-
licher Teil, II. Tit. 11, atmet den Geist Friedrichs des Grossen. Gewissens- und Kultusfreiheit
sind anerkannt. Die Staatsherrschaft ist zur Staatsaufsicht gemildert. Die Religionsgesellschaft
ist in ihrer gemeindlichen Gliederung als ein nach Zweck und Verfassung vom Staate unterscheidbarer