Wilhelm Kahl, Staat und Kirche. 93
christlichen Charakter zu schaffen und zu bewahren habe. Dieser christliche Staat sollte sich auf
ein Christentum stützen, welches nicht der Inbegriff bestimmter dogmatischer Unterscheidungs-
lehren wäre, sondern vielmehr eine Abstraktion aus den allen christlichen Bekenntnissen gemein-
samen Fundamentalwahrheiten. Ein bemerkenswerter positivrechtlicher Niederschlag dieser
Bewegung ist der noch in Geltung stehende Art. 14 der Preussischen Verfassung: „Die christliche
Religion wird bei denjenigen Einrichtungen des Staats, welche mit der Religionsübung im Zusammen-
hange stehen, unbeschadet der im Art. 12 gewährleisteten Religionsfreiheit, zum Grunde gelegt.‘
Die zweite Vorstellungsreihe, welche parallel mit dem System der Kirchenhoheit in die
Praxis eintrat, gleich diesem bereits auf der Linie der Unterscheidung von Staat und Kirche stehend,
war von katholischer Seite eingeführt: der Anspruch der rechtlichen Gleichordnung von Staat und
Kirche, das Koordinationssystem. Beide sind koordinierte souveräne Gemeinschaften,
wie der Staat, so auch die katholische Kirche souverän auf ihrem ganzen aus eigener Vollmacht
abgesteckten Rechtsgebiet. Daher kann ihr der Staat keine Grenzlinie im Staat durch seine Gesetz-
gebung ziehen. Er kann keine Kirchenhobeit in Anspruch nehmen, keine Staatsaufsicht über die
Kirche ausüben. Solche ist an und für sich eine Verletzung der Kirchenfreiheit. Soweit eine Grenz-
regulierung überhaupt notwendig wird, soll sie, wie auch sonst unter den Souveränen des Völker-
rechts, durch Vertragsschluss geschehen. Konkordate sind der sprechende Ausdruck des Systems.
Ausserhalb der vertragsmässig abgegrenzten Kompetenzen richtet die Kirche ihre Rechtsordnung
im Staate aus eigener Machtvollkommenheit auf und muss die Freiheit in Anspruch nehmen, sie
mit ihren eigenen Machtmitteln durchzusetzen. Praktisch ist das System fast nur in eben den-
jenigen Fällen und Beziehungen geworden, in welchen die Verhältnisordnung zwischen den Staaten
und der katholischen Kirche irgendwie durch vertragsmässige Festsetzungen geregelt wurde.
Von prinzipiell mehr zurücktretender Bedeutung sind die Circumskriptionsbullen, d. h. auf Ver-
einbarung beruhende einseitig erlassene kirchliche und staatliche Verordnungen über die geographisch
kirchliche Einteilung des Staatsgebiets und die für katholische Kirchenzwecke aufzuwendenden
Staatsmittel. Der Abschluss von Konkordaten, d. i. prinzipiellen Grenzregulierungen in völker-
rechtlich bindenden Verträgen gelang Rom in Frankreich 1801, in Bayern 1817, in Österreich 1855.
Das französische Konkordat ist für Frankreich selbst durch die neueste Rechtsentwickelung be-
seitigt, für Elsass-Lothringen noch teilweise in Kraft. In voller Geltung steht dsbayerische
mit den durch die Verfassung und das Religionsedikt von 1818 für seiner Anwendbarkeit gegebenen
Einschränkungen. Das Österreichische wurde auf Grund des Vatikanums 1870 gekündigt und durch
die spätere Staatsgesetzgebung ausser Wirksamkeit gesetzt. Der von Rom eifrig betriebene Ab-
schluss eines Konkordats mit Preussen scheiterte an der Abneigung Friedrich Wilhelm III.,
über unveräusserliche Majestätsrechte mit dem Papst zu paktieren; es kam nur zur Vereinbarung
der Circumskriptionsbulle De salute animarum von 1821. Circumskriptionsbullen kamen ebenfalls
zustande für das Königreich Hannover und die Staaten der oberrheinischen Kirchenprovinz.
Als ein weiteres praktisches Residuum des Koordinationssystems kann auch noch die Unterhaltung
gesandtschaftlicher Beziehungen mit dem päpstlichen Stuhl zu bezeichnen sein,
wie solche für das deutsche Reich zwar eingestellt, von Preussen aber wieder aufgenommen worden ist.
Aus der Zahl der wissenschaftlichen Verfechter des Systems seien die bekannten Namen Görres,
Ketteler und Reichensperger hervorgehoben.
Beide Zwischensysteme konnten in die Entwickelung des Systems der Kirchenhoheit wohl
Hemmungen und Anomalien hineintragen, aber seine grundsätzliche Verwirklichung in der Gesetz-
gebung der deutschen Staaten nicht mehr ausschliessen. Es stellt den objektiven Niederschlag des
geschichtlich gewordenen Rechtsbewusstseins über das zeitige Normalverhältnis
von Staat und Kirche dar. Zugleich bezeichnet es auf der universalgeschichtlichen Entwickelungs-
linie den ungefähren Ruhepunkt, auf welchem gegenwärtig das Verhältnis von Staat und Kirche
in Deutschland sich befindet.
Den Ruhepunkt, nicht den Beharrungszustand. Einen solchen kann es in diesem schlechthin
geschichtlich bedingten Verhältnis nicht geben. Schon jetzt beginnt die Entwickelung über diesen
Punkt hinauszudrängen. Die Kirchenhoheit hat ihren Bestand gegen ein anderes kirchenpolitisches
System zu behaupten, welches den Iıreis der Verbältnisformen von Staat und Kirche überhaupt