9 Wilhelm Kahl, Staat und Kirche.
regulierung durch die Gesetzgebung des Staates, keine Staatskirchenhoheit, sondern, wie unter
sonveränen Mächten, Regulierung im Wege des Völkerrechts, durch Verträge und gesandtschaft-
lichen Verkehr. Auch der vielgenannte Toleranzantrag ruhte auf den Prinzipien der rechtlichen
Gleichordnung. Das Koordinationssystem ist grundsätzlich zu verwerfen. Dabei sei abgesehen von
der geschichtlichen Erfahrungstatsache, dass Konkordate niemals, ausser auf Kosten des Staats
zu einem dauernden Friedensverhältnis geführt haben. Cireumskriptionsbullen können aus Zweck-
miässiekeitseründen zu billigen sein. Der Schaden oder Nutzen diplomatischen Verkehrs hängt
lediglich von der Umsicht und Energie in Vertretung der Staatsinteressen ab; an sich ist er eine
Anomalie im Völkerrecht. Das System ist aber aus tiefer gelegenem prinzipiellera Grunde zu ver-
werfen. Keiner Kirche kann der Anspruch zuerkannt werden, eine dem Staat aequal gesetzte Rechts-
und Machtanstalt zu sein. Rechtliche Beherrschung kann den Kirchen nicht als Selbstzweck,
sondern überall nur als Mittel zur Verwirklichung ihrer religiös transzendentalen Zwecke zuzuge-
stehen sein. Die Grenzen dieser rechtlichen Beherrschung sind durch den Staat als den obersten
Behüter der Rechtsordnung zu ziehen. Das Verhältnis von Staat und Kirchen ist allgemein durch
Akte der Staatsgesetzgebung zu regeln. Für die katholische Kirche kann davon grundsätzlich keine
Ausnahme zu machen sein. In ihrem Rechtsleben innerhalb des Staats ist sie nicht internationale
Anstalt, sondern Landeskirche. Die Methode völkerrechtlicher Vertragsregulierung verletzt im
Verhältnis zur evangelischen Kirche auch die Parität. Soweit also Bestandteile des Koordinations-
systems noch in das geltende Recht hineinragen, ist ihre Beseitigung anzustreben.
Scheiden hiernach die vier genannten Verhältnisformen im ganzen aus, so bleibt gegenüber
dem herrschenden System der Kirchenhoheit eine ernstliche Abrechnung nur mit der Forderung der
Trennung von Kirche und Staat. Sie ist die Frage derZukunft. Ihre Prüfung setzt aber eine min-
destens summarische Orientierung über das Recht der Gegenwart voraus.
11. Geltendes Recht. Der grundlegende Begriff der Kirchenhoheit bildet den
rechtlichen Gegensatz zu dem der Kirchengewalt. Kirchengewalt ist die das Innere des Kirchen-
wesens ordnende und daher ausschliesslich den Organen der Kirche selbst zustehende Macht.
Kirchenhoheit dagegen ist der Inbegriff der dem Staate als solchem aufdem Grunde der
allgemeinen Staatshoheit über alle Kirchen- und Religionsgesell-
schaften innerhalb des Staatsgebiets zukommenden Rechte. Waren aber schon, wie vorstehend
nachgewiesen, die ersten Anfänge ihrer Entwickelung in der alten Reichszeit territorial auseinander-
strebend, so hat erst recht nach Auflösung des heiligen römischen Reichs deutscher Nation ihre Aus-
gestaltung im einzelnen sich in grosser landesrechtlicher Verschiedenheit vollzogen. Das deutsche
Staatskirchenrecht war inder Rheinbundszeit wie in der Periode des deutschen Bundes ausschliesslich
part j k u läre s Recht. Es trägt diesen Charäkter weit überwiegend auch heute. Die
t gdes neuen Reiches hat zwar mit vielen wichtigen Einzelbestimmungen,
aber immer nur ge le gentlich gemeinrechtlich ordnend in das V' erhültnis von Staat und Kirche
eingegriffen. Trotz dieser landesrechtlichen Dezentralisation sind jedoch die leitenden Rechts-
grundsätze einheitlich und gleich. Nach einer bereits an den Westfälischen Frieden anknüpfenden
Entwickelung gliedert sich der Inhalt der Kirchenhoheit in das sog. Reformationsrecht,
dasOberaufsichtsrechtunddasSchutzrechtdes Staats. Da es aber hier nicht auf
eine erschöpfende lehrhafte Darstellung des geltenden Rechtszustandes abgesehen ist, sondern auf
scharfe Herausarbeitung der ihm zugrunde liegenden allgemeinen und führenden Rechtsgedanken,
so soll sich das Folgende nicht eng an dieses geschichtliche Schema halten, sondern in kurzen pro-
grammatischen Sätzen die Summe des geltenden Rechtes ziehen.
Das einheitlich nachweisbare und überall massgebende Grundprinzipdes herrschenden
Systems der Kirchenhoheit ist: Staat und Kirchen sind organisatorisch und funktionell insoweit
von einander zu scheiden, als dies durch die Verschiedenartigkeit ihres Wesens
bedingt ist; sie bleiben andererseits verbunden, soweit dies durch geschichtliche Notwendigkeiten
oder durch berücksichtigungswerte Bedürfnisse von Staat und Kirche erfordert wird. Als ent-
scl.eidende positiv rechtliche Niederschläge dieses Prinzips sind aus der bestehenden Staatskirchen-