Wilhelm Kahl, Staat und Kirche. 97
1. Der Grundsatz der Parität. Dieser viel missverstandene und missbrauchte
Begriff ist im kirchenpolitischen, staatsrechtlichen und kirchenrechtlichen Sinn zu unterscheiden.
Kirchenpolitisch bedeutet Parität die gesellschaftliche Gleichheit der Kirchen in dem
Masse ihrer rechtlichen Selbständigkeit gegenüber dem Staat. Sie bedeutet nicht notwendig die
Einerleiheit des Rechts, sondern richtig verstanden vielmehr nur die Gleichheit der rechtlichen
Lebensbedingungen der verschieden gearteten Kirchen in ihrem Verhältnis zum Staat. Jeder das
Ihre, nicht jeder das Gleiche. Abstrakte Schablonenhaftigkeit führt zur Imparität. Wahrhaft
paritätische Gesetzgebung und Verwaltung muss die einzelnen Kirchen- und Religionsgesellschaften
nach ihrer öffentlichen Bedeutung, nach ihren Machtmitteln, nach ihrer eigenen geschichtlichen und
prinzipiellen Stellung zum Staat spezifisch differenzieren. Parität im staatsrechtlichen
Begriff bedeutet die Gleichheit der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ohne Rücksicht auf
das religiöse Bekenntnis. Sie wurde für das Reichsgebiet schon durch das Norddeutsche Bundes-
gesetz vom 3. Juli 1869 garantiert. Sie entartet zur mechanischen Parität, wenn aus der Gleichheit
der staatsbürgerlichen Rechte eine konfessionell gleichprozentuale Beteiligung an den Staatsämtern
gefolgert wird. In der modernen Staatsordnung entscheidet über die Bekleidung von Staatsämtern
grundsätzlich die Tüchtigkeit und nicht die Konfession. Parität im kirchenrechtlichen
Begriff bedeutet die wechselseitige Unabhängigkeit der Kirchengesellschaften im Staat in ihrem
Verhältnis untereinander. Die staatliche Aufgabe der Paritätspflege in diesem Sinn ist die Wahrung
desRechtsfriedensunterden Konfessionen. Die Ordnungen und Veranstaltungen für diesen
Zweck beziehen sich insbesondere auf den Schutz des religionsgesellschaftlichen Tatbestandes durch
Verbot der Proselytenmacherei und staatsgesetzliche Ordnungen über die religiöse Kindererziehung
sowie auf die Integrität des Vermögens. An und für sich besteht für keine Religionsgesellschaft oder
deren Angehörige eine rechtliche Verpflichtung zu vermögensrechtlichen Leistungen für Zwecke
anderer Religionsgesel'schaften. Solche können immer nur durch besondere Rechtstitel, wie Patro-
natrecht, dingliche Lasten, Simultangebrauch von Kirchen, Kirchhöfen u. a. begründet sein.
2. Der Grundsatz der Bekenntnisfreiheit. Ihre beiden rechtlichen Er-
scheinungsformen sind die individuelle Gewissensfreiheit und die gesellschaftliche Kultusfreiheit.
Die vornehmsten Ausserungen der ersteren sind die Freiheit von Lehre und Wissenschaft, die freie
Entschliessung der Erwachsenen über Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religions-
gesellschaft, die Freibeit des Konfessionswechsels, die schon erwähnte Unabhängigkeit der bürger-
lichen und staatsbürgerlichen Rechte vom religiösen Bekenntnis. Die selbstverständlichen Schranken
der individuellen Gewissensfreiheit liegen im Gebiet der verfassungsmässigen Pflichten, deren Er-
füllung sich Niemand unter Berufung auf Gewissensfreiheit entziehen kann. Die gesellschaftliche
Kultusfreiheit hat die Anerkennung einer Religionsgesellschaft im Staate zur Voraussetzung.
Diese Anerkennung wird durch die Ausübung des staatlichen Reformationsrechts gewährt und
näher bestimmt. Das Reformationsrecht im gegenwärtigen Sinne begreift das Recht der Auf-
nahme neuerund das Recht derstaatsrechtlichenDifferenzierung der auf-
genommenen Religionsgesellschaften. Als die juristischen Grundtypen der letzteren sind zu unter-
scheiden die Kirchen mit öffentlich-rechtlicher Korporationsqualität,
Religionsgesellschaften mit privatrechtlicherRechtsfähigkeitundreligiöse
Vereine. Die rechtliche Stellung von öffentlichen Korporationen haben die evangelischen
(lutherischen, reformierten, unierten) und katholischen (römisch-, auch meist altkatholischen)
Landeskirchen; die öffentlich rechtliche Korporationsqualität drückt sich aus in dem staatlich
anerkannten Recht auf Ausübung einer obrigkeitlichen Gewalt über die Kirchenglieder, in der
Ausstattung der Kirchen mit besonderen Privilegien und dementsprechend der Ausübung eines
besonderen staatlichen Oberaufsichtsrechts. Zur Gruppe der Religionsgesellschaften mit privat-
rechtlicher Rechtsfähigkeit gehören allgemein die jüdischen Synagogengemeinden, und von christ-
lichen Religionsgemeinschaften Herrnhuter, Altlutheraner, Mennoniten, Baptisten u. a. Die recht-
liche Stellung dieser Gattung beruht zumeist auf besonderen Konzessionsurkunden, in denen das
Mass ihrer Berechtigung näher festgestellt ist. Die Rechtsstellung der religiösen Vereine bemisst sich
nach den öffentlich rechtlichen Vereinsgesetzen der Einzelstasten, deren Bestimmungen über
Handbuch der Politik. II. Auflage. Band 1. 7