Wilhelm Kahl, Staat und Kirche. 105
satz, also künstlich zu Privatvereinen, d. h. zu einem Gebilde zu machen, das sie nach Wesen und
geschichtlichem Bestande nicht sind. Das historisch gewordene Kirchentum in Deutschland trägt
nach seiner Verknüpfung mit dem Volkstum noch immer an sich selbst einen schlechthin öffentlichen
Charakter. Wie sollte es sich in den Zwang einer Rechtsform fügen, welches seinem Geiste schlecht-
hin widerstrebt! Dieser lehnt es ab, die Kirchen mit wirtschaftlichen Gesellschaften, mit wissen-
schaftlichen, wohltätigen oder politischen Vereinen juristisch zu identifizieren. Die Lehre von der
Religion als Privatsache hat ihre volle Geltung und Berechtigung im Gebiet der individuellen
Gewissensfreiheit, sie ist aber für Deutschland keine allgemein gültige Lebenswahrheit im Verhältnis
der Religion zur Gesamtheit von Staat und Volk. Damit in folgerichtigem Zusammenhang steht
das weitere Bedenken, ob die deutschen Staaten ohne schwere politische und kulturelle Gefährdung
die Einbusse an Kirchenhoheit, an Oberaufsichtsrechten zu ertragen vermöchten, welche mit einem
korrekt und ehrlich durchgeführten System der Trennung unvermeidlich verbunden ist. Schwere
Kämpfe und nachteilige Folgen würden sich nicht nur für die Wahrung der vitalsten Staatsinteressen
selbst, sondern insbesondere auch im Gebiet der Paritätspflege ergeben. Denn die Mittel unkontrol-
lierbarer Vereinstätigkeit gestatten eine Kraftentwickelung nach beiden Seiten, sowohl eine unbe-
rechenbare Einflussnahme auf die Staatsleitung, als die Ausnutzung der Macht des Stärkeren gegen
das Recht des Schwächeren. Es erheben :ich endlich grundsätzliche Bedenken gegen die völlige
Ausschaltung der Kirche von gewissen Aufgaben der Staatspflege. Es ist insbesondere kein Zweifel,
dass mit der absoluten Trennung der Kirche vom staatlichen Schulwesen sich eine der Quellen unserer
gesamten eigenartigen deutschen Kultur schliessen würde. Das Gemeinwohl fordert die Er-
haltung der theologischen Fakultäten beiderlei Konfession. Der Staat hat ein Lebensinteresse
daran, den deutschen katholischen Klerus in der nationalen Kulturgemeinschaft der Universitäten
erzogen und erhalten zu wissen, ein noch grösseres daran, den ungeheuren Ertrag der von den
evangelisch theologischen Fakultäten geleisteten und zu leistenden Arbeit im überlieferten und be-
währten Zusammenhang der allgemeinen Geisteswissenschaften zu erhalten.
Aber halte man von diesen prinzipiellen Bedenklichkeiten so viel oder wenig, als man wolle.
Es öffnet sich noch ein dritter Fragenkreis. In ihm treten diejenigen Erwägungen auf, welche die
tatsächliche Durchführbarkeit des Systems in der Gegenwart betreffen.
Hier müssten insbesondere drei Hindernisse von denen beseitigt werden, welche die Trennung
von Staat und Kirche in Deutschland ‚einführen‘ wollen. Das erste liegt im bundesstaat-
lichen Verhältnis von Reich und Einzelstaaten. Unser Staatskirchenrecht ist seit Ent-
stehung der Landeshoheit in seinem wesentlichen Bestande partikuläres Recht. Diesen Charakter
hat es reichsverfassungsmässig noch jetzt. Das Eingreifen der Reichsgesetzgebung war und ist über-
all nur ein gelegentliches und mittelbares. Eine unmittelbare Reichskompetenz in Religionssachen
gibt es nicht. Die Versuche, eine solche zu begründen, sind ausnahrnslos gescheitert und mussten
scheitern. Eine reichsgesetzliche Durchführung der Trennung von Staat und Kirche würde die grund-
sätzliche, die totale und radikale Beseitigung des Landeskirchenrechts bedingen. Sie wäre dann
nicht mehr der Ausdruck eines verfassungsmässig bestehenden Bundesstaatsverhältnisses, sondern
das Anzeichen seiner Auflösung und des Überganges zum Einheitsstaat. Aus dieser geschichtlichen
Gebundenheit kann das Problem der Trennung von Staat und Kirche in Deutschland im Zusammen-
hange mit der Entwickelung des bundesstaatlichen Verhältnisses selbst nicht auszulösen sein. Schon
darum ist jede Vergleichung mit Frankreich ausgeschlossen. Dort hatte es die Staatsgesetzgebung
nur mit Aufräumung eines auf einheitlichen Rechtsquellen beruhenden Staatskirchenrechts zu tun.
Hiernach hätte also in Deutschland das Trennungsgeschäft vom Landesrecht zu geschehen.
Hier aber steht überall ein weiteres, durch die Staatsgesetzgebung nicht willkürlich und nicht zwangs-
weise zu beseitigendes Hindernis im Wege: die Tatsache dslandesherrlichenKirchen-
regiments über die evangelischen Landeskirchen. Von dem freien Verzichte darauf würde die
Durchführbarkeit des Systems schlechthin abhängig sein. Ein solcher Verzicht der deutschen
Landesherrn ist nicht zu erwarten. Man beurteile das nicht falsch. Es ist nach Abstreifung des
alten territorialistischen Charakters in keinem Sinne mehr eine Machtfrage. Das landesherrliche
Kirchenregiment ist nicht bloss ein Inbegriff von Rechten; es steht nicht weniger unter dem Gesichts-
punkt einer durch den Gang der deutschen Geschichte auferlegten und dem Protestantismus gegen-