10. Abschnitt.
a) Staat und Wirtschaft.
Von
Dr. W. Wygodzinski,
Universitätsprofessor in Bonn.
Literatur:
Die Literatur über das Verhältnis von Staat und Wirtschaft ist fast so umfangreich wie die volkawirt-
sohaftliche Literatur überhaupt; zum mindesten in allen Fragen der Wirtschaftspolitik ist eine Stellungnahme
in dem einen oder anderen Sinne fast unumgänglich. Es sei deshalb in erster Linie auf die Lehrbücher und Systeme
der Volkswirtschaft verwiesen, insbesondere auf die Werke Schmollers, Philippovichs und namentlich Adolf
Wagners. Zu vergleichen ist weiter Band II der Schmollerfestschrift „Die Entwicklung der deutschen Volkswirt
schaftslehre im 19. Jahrhundert“ (Leipzig 1908), in dem eine Reihe von Spezialforschern die Einwirkung des
Stasts auf die einzelnen Gebiete der Wirtschaftspolitik erörtern. Zum ersten Überblick sei die kleine Schrift Carl
Kindermanns „Volkswirtschaft und Staat‘ (Leipzig 1908) genannt.
Der Staat steht zu der Wirtschaft in einer doppelten Beziehung; er muss selbst
„wirtschaften“, d. h. die materiellen Mittel zur Ausübung seiner Funktionen beschaffen, und er
wirkt ferner regelnd, hemmend oder fördernd auf die Wirtschaft der Staatsbürger ein. Zwar kann
der Staat scheinbar nach beiden Richtungen hin sich völlig passiv verhalten: Er kann auf jede
Eigenwirtschaft, jede eigene Produktion verzichten, sei es weil er sich dazu nicht berufen fühlt
oder weil er die „Nahrung‘ der Bürger nicht stören will; er kann ebenso auf jedes Eingreifen in
die Wirtschaftsführung der Volksgenossen verzichten. Diese Passivität ist jedoch nur eine
scheinbare; denn in beiden Fällen übt der Staat trotz seiner anscheinenden Zurückhaltung oder
vielmehr gerade durch sie eine tiefgreifende Wirkung auf die Gestaltung der Wirtschaftsvorgänge
aus.
Lehnt er esab, durch Eigenwirtschaft für die völlige oder teilweise Deckung seines materiellen
Bedarfs zu sorgen, so muss er sich in entsprechendem Masse Teile des Einkommens der Volksge-
nossen aneignen; diese Aneignung führt er kraft seiner Staatshoheit zwangsweise, wenn natürlich
auch in den Formen des jeweils geltenden Rechts, ohne weiteres und unter Umständen (Kriegs-
zeiten) ohne Rücksicht auf die normalen Existenzbedingungen der Bevölkerung durch. Die Form
dieser Heranziehung privater Mittel für Staatszwecke kann sehr verschieden sein: nicht nur Steuern
und Gebühren, an die man zuerst denkt, sondern auch Kontributionen, Naturalleistungen (Ein-
quartierung, Pferdegestellung, Wegefronden) und namentlich ehrenamtliche unentgeltliche
Dienstleistung in Verwaltung und Rechtsprechung.
Die wirtschaftspolitische Passivität gegenüber seinen Bürgern kann gleich tiefgehende
Folgen für die Sachproduktion wie für die Gestaltung der sozialen Schichtungsverhältnisse haben,
Strikter Freihandel, d. h. also zollpolitische Passivität kann die völlige Preisgabe eines Gewerbes
bedeuten, sofern dieses der Konkurrenz eines gleichen unter günstigeren Bedingungen produ-
zierenden Gewerbes eines anderen Landes ausgesetzt ist. Vielleicht wird dadurch das gesamte
Volkseinkommen nicht vermindert, vielleicht sogar gesteigert, indem andere ihrerseits unter gün-
stigeren Bedingungen arbeitenden Gewerbe des Landes nun einen umso grösseren Aufschwung
nehmen; aber es bleibt doch die wirtschaftliche Vernichtung oder Deklassierung eines Volksteils,
die Wertminderung der in diesem Produktionszweige angelegten Vermögensteile übrig (Getreide-
bau in England). Handelt es sich dabei um Produktionen, die sich innerhalb der Konsumgemein-
schaft des Volkes nicht entbehren oder ersetzen lassen, dann gibt der Staat damit zugleich seine
Unabhängigkeit preis und macht sich von der Zufuhr aus anderen Staaten abhängig. Das kosmo-
politische Ideal tritt dann an die Stelle des nationalpolitischen.
Die sozialpolitische Passivität beruht auf dem Gedanken völliger privatwirtschaftlicher
Vertragsfreiheit. Zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, zwischen Schuldner und Gläubiger, zwischen