Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

108 W. Wygodzinski, Staat und Wirtschaft. 
  
  
Käufer und Verkäufer entscheidet formell der freie Vertragswille. Es ist jedoch leicht einzusehen 
dass diese Vertragsfreiheit nur eine Fiktion ist; denn in Wirklichkeit entscheiden die wirtschaft- 
lichen Kräfteverhältnisse. Der Arbeiter ist formell berechtigt, einen beliebig hohen Lohn und eine 
beliebig kurze Arbeitszeit zu verlangen; er wird diese Forderung jedoch nur dann durchsetzen 
können, wenn er der wirtschaftlich stärkere ist, d. h. wenn das Angebot von Arbeitskräften knapper 
ist als die Nachfrage danach. Eine solche Situation kommt — und nicht nur gelegentlich — wohl 
vor; so z. B. in den jungen Arbeiterstaaten Australiens. Für gewöhnlich wird jedoch die Stellung 
des Unternehmers die bessere sein, weil das Arbeitsangebot zu überwiegen pflest; der scheinbar 
freie Vertragsabschluss wird also tatsächlich zugunsten des Unternehmers ausfallen. Zu seinen 
Ungunsten kann sich jedoch die Situation wiederum dann verschieben, wenn unter strenger Auf- 
rechterhaltung des Prinzips der Vertragsfreiheit und der Nichteinmischung des Staats die Arbeiter 
durch Zusammenschluss zu Verbänden das Angebot zusammenfassen und durch die weiteren Mittel 
der Arbeitseinstellung (als Produzenten) und des Boykotts (als Konsumenten) ihre Lohnforderungen 
und anderen Bedingungen durchsetzen. Dass demgegenüber nun wiederum die Unternehmer mit 
Verband und Aussperrung sich wehren, zeigt, dass die angebliche Vertragsfreiheit nichts anderes 
ist als der jeweilige Waffenstillstand zwischen erschöpften Kämpfern. 
Vertragsfreiheit bedeutet Preisgabe des wirtschaftlich Schwächeren, kann Arbeiteraus- 
beutung, \Wucher, Monopolpreis, aber auch Ruin des Unternehmers, Schädigung des Kapitalisten, 
einseitige Förderung des Konsumenteninteresses bedeuten. Vertragsfreiheit ist ein blosses Wort, 
dessen Inhalt erst die Wirtschaftslage des Augenblicks schafft. 
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Die Stellung des Staates zu den Fragen der Wirtschaft kann nur durch seine eigene Auf- 
gabe gegeben werden; sie ist deshalb durchaus politisch bestimmt. Wer den Staat nur als eine Teil- 
organisation der Menschheit des ganzen Erdkreises ansieht, wer die Entwicklung des einzelnen 
Individuums für das gegenwärtige Ziel der Kultur erklärt, wird zum mindesten ein Eingreifen des 
Staates auf das unerlässliche Minimum beschränken wollen. Zwar wird heut kaum jemand mehr 
auf dem blossen ‚„Nachtwächter‘-Standpunkt der französischen Liberalen der dreissiger und 
vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stehen, die dem Staat keine andere Aufgabe zuerkennen 
wollten als den Schutz von Leben und Eigentum; aber die Vorstellung der praestabilierten Har- 
monie des sich selbst überlassenen Wirtschaftslebens beherrscht doch immer noch weite Kreise 
der Wissenschaft wie der wirtschaftspolitischen Praxis. In den meisten Ländern erfolgt allerdings, 
unbekümmert um jede Theorie, ein weitgehendes Eingreifen des Staates in die 
Wirtschaft, und selbst das andere Extrem, die völlige Sozialisierung der Wirtschaft, ringt 
in den australischen Staaten deutlich genug um Erfüllung. Dem Einfluss des transozeanischen 
Angelsachsentums ist es wohl vor allem zuzuschreiben, dass selbst der alte Hort der „non-inter- 
vention“, Grossbritannien, auf dem Wege namentlich des sozialpolitischen Staatseingreifens kühn 
vorangeht; das Alterspensionsgesetz des liberalen Ministers Lloyd George ist viel „sozialistischer“ 
als unsere vielzepriesene deutsche Arbeiterversicherung. Wer den Zweck des Staates in ihm selbst 
und seiner Selbstbehauptung sieht, wird seine wirtschaftliche Tätigkeit eben unter dem Gesichts- 
punkte der Staatsnotwendigkeit erfassen. Dies gilt von der Tätigkeit des Staates als wirtschaften- 
dem Subjekt, von dem Einfluss auf die nationale Produktion und die grossen Erwerbsgruppen wie 
schliesslich von der Einwirkung auf die sozialen Verhältnisse. 
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Beim Staat als selbstwirtschaftendem Subjekt wird man zwischen 
jenen Wirtschaftszweigen scheiden können, deren Betreibung inseinem Wesenals Staat 
selbst begründet werden kann, und jenen weiteren, die ihm nur als Finanzquelle dienen. 
Als Musterbeispiel für die ersteren sei das Eisenbahnwesen angeführt. Zwar bringen die Eisenbahnen 
gewaltige Überschüsse (in Preussen und Bayern sind die Einnahmen aus ihnen grösser als die 
Steuererträgnisse); aber das wesentliche liegt doch nicht darin, sondern in der Einwirkung der 
Eisenbahnen auf das gesamte Wirtschaftsleben. Die Gütertarifpolitik ist die entscheidende Tat-
	        
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