Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Franz Oppenheimer, Staat und Gesellschaft. 119 
  
C. Staat und Wirtschaftsgesellschaft. Tendenz der Entwicklung. 
Historischer Staat und historische Gesellschaft sind in eine empirische Einheit verflochten. 
Die Entfaltung und Ausgestaltung der Wirtschaftsgesellschaft wird entscheidend beeinflusst durch 
die Wirkung des durch den Staat gesetzten Klassen-Monopolverhältnisses — und umgekehrt wird 
die Entfaltung und Ausgestaltung des Staates entscheidend beeinflusst durch die Wirkungen und 
Bedürfnisse der immer (mit der Volkszahl) wachsenden wirtschaftlichen Kooperation. Sie erzwingt 
Niederlegung oder Erniedrigung alter politischer Grenzen (deutscher Zollverein, Verwandlung von 
Deutschland und Italien in einheitliche Wirtschaftsgebiete), internationale Wirtschaftsbünde, 
Schiedsgerichte usw. Auf der anderen Seite bewirkt das ‚staatliche‘ Element, das Gewalteigentum, 
Aufrichtung neuer Wirtschaftsgrenzen (Zölle ete.), Kolonial- und Marktkriege usw. Aber das 
ökonomische Mittel erringt offenbar immer mehr das Übergewicht über das politische in dem Masse, 
wie die Unterklasse an Zahl und politischer Geschlossenheit wächst. Der Staat wird immer mehr 
gezwungen, die Fürsorge für die Unterklasse um ihrer selbst willen, nicht mehr nur im Interesse der 
Oberklasse zu betreiben. Diese Entwicklungstendenz erscheint unaufhaltsam, um so mehr, als 
unter dem Einfluss der Freizügigkeit die Bodensperrung immer mehr ihren wirtschaftlichen Inhalt 
verliert; die Wanderbewegung der besitzlosen Landbevölkerung richtet das Grossgrundeigentum 
zugrunde: die überseeische Auswanderung hat durch die Besiedelung namentlich Nordamerikas 
und Argentiniens die Preise geworfen, die inländische Abwanderung die Löhne getrieben (Leutenot), 
und das politische Schwergewicht immer mehr auf die Industriebezirke verlegt. Daran muss das 
Grossgrundeigentum bald zugrunde gehen, und mit ihm verschwindet das Klassen-Monopolver- 
hältnis und der ‚Staat‘ im historischen Sinne als Organisation des politischen Mittels. Was bleibt, 
ist „Gesellschaft‘, „bürgerliche Gesellschaft‘ mitso viel Zwangsgewalt (also ‚staatlichen‘ Elementen 
in jenem anderen Sinne) wie zur Erhaltung von Rechtssicherheit und Ordnung unentbehrlich ist. 
D. Staat und „Gesellschaft im weiteren Sinne“. 
Die menschliche Gesellschaft ist nicht nur bürgerliche (politische) und Wirtschaftsgemein- 
schaft, sondern auch Geschlechts-, Sprach-, Sitten-, Religionsgemeinschaft, gesellige Gemeinschaft 
usw. Die Einflüsse, die der ‚Staat‘ im hier gebrauchten Sinne, also das im Klassenstaat rechtlich 
fixierte Klassen-Monopolverhältnis, auf alle diese Beziehungskomplexe ausübt, sind bisher noch 
kaum genauer untersucht worden. Die Moralstatistik hat in ihren Untersuchungen über den Zu- 
sammenhang zwischen der Klassenlage und z. B. dem Kriminalismus, der Prostitution, dem Al- 
koholismus, der Irrsinnsziffer usw. einige Bausteine für ein solches Wissensgebäude beigebracht. 
Im allgemeinen konnte aber die bürgerliche Wissenschaft hier nicht einmal zur Problemstellung ge- 
langen, weil sie „Staat“ und „Gesellschaft“ in unserem Sinne für ewige Kategorien und daher für 
untrennbar hält. Nur der Sozialismus, der den Staat als Klassenstaat für eine kurzlebige, der bal- 
digen Ausrottung verfallene „historische Kategorie‘ hält, konnte das Problem stellen und hat es 
gestellt, konnte es aber nicht mit genügender wissenschaftlicher Besonnenheit beantworten. Immer- 
hin finden sich in den verschiedenen Utopien, z. B. in Bebels ‚Frau‘, Bellamys „Rückblick“, 
Hertzkas ‚Freiland‘, van Eedens „Kleiner Johannes“ u. a. gute Ansätze zu einer Erörterung des 
Problems, wie der heutige „Staat“ auf die „Gesellschaft im weiteren Sinne“ einwirkt. Jedem 
wahren Sozialisten ist die wirtschaftliche, die Futterfrage nicht mehr als das unentbehrliche Funda- 
ment der neuen Ordnung, in der sich alle höhere Menschlichkeit herrlich entfalten kann. Indem der 
sittliche, gesundheitliche, künstlerische, wissenschaftliche Hochstand der vollendet gedachten 
sozialistischen Wirtschaft in den leuchtendsten Farben ausgemalt wird, wird er aufs schärfste kon- 
trastiert mit dem betrüblichen Stande der Dinge in der kapitalistischen Gegenwart; dabei wird fast 
immer der Zusammenhang zwischen der Klassenlage und dem allgemeinen Gesellschaftszustande 
mehr oder weniger glücklich deduziert. 
In der Tat kann man mit Sicherheit aussprechen, dass in einer reinen „Gesellschaft“, die von 
allem politischen Mittel, d. h. allem „‚Staat‘“ erlöst wäre, in allen diesen gesellschaftlichen Beziehung 
ein viel höheres Allgemein-Niveau bestehen würde. Die „sozialpathologischen Erscheinungen“ der 
Gegenwart würden als gefährliche Massenphänomene verschwinden und nur noch als für
	        
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