Wilhelm van Calker, Die staatlichen Herrschaftsformen. 147
bevorzugter physischer oder juristischer Personen zusteht.®) Auf Grund welcher Eigen-
schaften diese Personen als Träger der Staatsgewalt berufen erscheinen, ist begrifflich gleich-
gültig. Naturgemäss wird es stets irgend ein tatsächlicher oder eingebildeter Vorzug sein,
der einer bestimmten Personenkategorie zur Herrschaft über die anderen verhilft.
Die Hauptrolle spielt hierbei, abgesehen von der Berufung auf einen besonderen göttlichen
Auftrag (Theokratie), die Zugehörigkeit zu bestimmten Familien (Geschlechteraristo-
kratie, Adelsaristokratie®) oder zu bestimmten Berufskreisen (Militäraristokratie, Priester-
aristokratie, Aristokratie der grossen Landesherren, Herrschaft der Zünfte), oder der Besitz
eines grossen Vermögens (Geldaristokratie, Plutokratie, Timokratie) oder auch der Besitz
besonderer Bildung. Endlich kann auch einfach die Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Rasse für die Berufung zur Herrschaft entscheidend sein; in diesem Falle fallen allerdings,
soferne überhaupt nur die Angehörigen eben dieser bestimmten Rasse zum Staatsvolke gehören,
Aristokratie und Demokratie tatsächlich zusammen.*) In der Regel ist in der Aristokratie
ein Aufsteigen aus der Klasse der Beherrschten in die Klasse der Herrschenden rechtlich
unmöglich oder doch tatsächlich sehr schwierig; zumeist gründet sich die Zugebörigkeit zu
der herrschenden Klasse auf die Abstammung, in dem Sinne, dass „die jeweiligen Häupter
einer durch Vererbung des Vorrechts abgeschlossenen Gruppe von bevorrechtigten Geschlechtern
die oberste Gewalt besitzen“.°) . Im einzelnen können die Aristokratien, ebenso wie alle anderen
Arten von Mehrherrschaften sehr verschiedenartig organisiert sein. Die wichtigste Unterscheidung
ist die in unmittelbare und mittelbare Aristokratien, je nachdem die der Gesamtheit der
Bevorrechteten zustehende Staatsherrschaft von jener Gesamtheit selbst oder nur von einem oder
mehreren Vertretern jener Gesamtheit ausgeübt wird. Der oder die Vertreter der herrschenden
Klasse werden in der Regel von der Gesamtheit der Bevorrechtigten auf bestimmte Dauer
oder auf Lebenszeit gewählt. Das Wesen der Aristokratie gestattet vielerlei Unterformen, die
die Aristokratie bald der Monarchie bald derDemokratie nahe bringen. Heute ist die Aristokratie
— wenn wir von den einer Schablonisierung widerstrebenden individuellen Herrschaftsformen der
zusammengesetzten Staaten, wie des Deutschen Reiche, abseben, — nahezu verschwunden. Als
historische Staatsindividualitäten,“) durch deren Betrachtung wir rückschauend ein Bild von der
Mannigfaltigkeit der aristokratischen Herrschaftsform gewinnen können, möchte ich besonders
anführen: Die Polis der Spartiaten; die griechischen Seestädte;) Athen bis etwa zum Jahre
600; Karthago; die altrömische Republik mit ihrer Patrizierherrschaft; die Kastenherrschaft
in Indien; Venedig undGenua.®) Eine Abart der Aristokratie ist dieOligarchie. Sie erscheint,
insofern der herrschenden Minderheit die den Trägern der Staatsgewalt in der Aristokratie sonst
beigemessenen Vorzüge fehlen, als,,‚Entartung“ dieser Herrschaftsform. Der Ausdruck Oligarchie
wird aber, so mit Bezug auf das Deutsche Reich, häufig auch einfach im etymologischen Sinn
gebraucht (vgl. oben S. 136).
b) Die Demokratie oder „demokratische Republik“.
Die „Demokratie“ oder „demokratische Republik“ ist diejenige Unterform der Mehr-
herrschaft, bei der die Staatsgewalt der Gesamtheit der Staatsbürger zukommt. Unter
„Staatsbürgern“ sind hierbei alle diejenigen Staatsangehörigen zu verstehen, welche sich in
dem Genusse der verfassungsmässig für alle Staatsangehörigen unter den gleichen rechtlichen
#2) Demnach ist, wie Re hm, St.L., S. 188, im Gegensatz zu der bisherigen Lehre überzeugend ausführt,
auch die Zweiherrsohaft(Dyarchie,Doppelkönigtum)alsMehrherrschaft und zwar als Aristo-
kratie zu bezeichnen.
®)Seydel,Vorträge,S. 23, bezeichnet es mit Recht als verfehlt, Aristokratie und Adelsherrschaft soblecht-
hin zu identifizieren.
%) S. bezüglich Spartas oben S. 134.
®-) S. Richard Schmidt, I. 266.
®) Vgl. oben S. 134 Anm. 20 u. besonders Rich. Schmidt, II. 2, S. 839,
#) Vgl. Rich. Schmidt, II. 1, S. 97ff.
“) Treitechke I, 239 ff.