Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Adolf Tecklenburg, Allgemeine Würdigung der Herrschaftsformen. 153 
  
Die griechische Wissenschaft zielt darauf ab, die Form eines idealen Staates zu ergründen. 
Bei dem ersten Versuch einer Erklärung des Staates, der von den Sophisten unter- 
nommen wurde, ging man davon aus, dass der Staat der Sicherung der individuellen Lebens- 
zwecke diene. Dieser Aufgabe wird er am besten gerecht, wenn er alle seine Mitglieder als gleich 
behandelt. Die Möglichkeit einer solchen auf Gleichheit aufgebauten Gemeinschaft wird durch 
die Gleichheit der Anlagen der Menschen gewährleistet. Nach der Lehre des Sophisten Prota- 
soras sind zwei Anlagen dem Menschen eigen, nämlich sittliches Bewusstsein (xtöss) und Rechts- 
gefühl ($ixn). Daraus, dass in diesen Eigenschaften, welche für das staatliche Leben von entschei- 
dender Bedeutung sind, alle Menschen gleich sind, folgert Protagoras die Notwendigkeit der poli- 
tischen Gleichheit. Für ihn ist die Demokratie der Idealstaat. Die Gesetze, die das Volk, 
geleitet von seinen Führern, den Sophisten, beschliesst, enthalten das dem Stast unbedingt Zu- 
trägliche. Menzel) weist mit Recht auf die Parallele mit der Rousseau’schen Lehre von der 
volonte generale hin. Für das, was die Volksversammlung beschlossen hat, ist kein Massstab zur 
Beurteilung vorhanden. Insbesondere erkennt Protagoras ein Naturrecht, dem andere Normen 
entsprängen, als dem positiven Recht, nicht an. Damit ist das Mass der Dinge in den einzelnen 
Menschen verlegt. 
Gegenüber der sophistischen Leugnung eines allgemeingiltigen Wissens hat Sokrates 
die Möglichkeit seiner Ableitung im Wege der Abstraktion aus den Einzelerscheinungen nachge- 
wiesen. Durch Pla to wird die so gewonnene Begriffswelt hypostasiert und verwandelt sich in die 
metaphysische Welt des wahrhaft Seienden, von welcher die durch die menschlichen Sinne wahr- 
nehmbaren Erscheinungsdinge nur ein vergängliches Abbild darstellen. Durch die Abkehr von 
der vergänglichen Welt wird der Mensch der Tugend zugewendet. Beherrschung der Begierden 
(supposivn), Mut (&vöpi«), Weisheit (sopi«) sind in aufsteigender Reihenfolge die Tugenden, 
welche der Mensch erstreben soll. Die Harmonie dieser Tugenden wird gewährleistet durch die 
vierte Cardinaltugend, die Gerechtigkeit (d:.a:000vn). Dieses ethische Ziel des Menschen ver- 
mag er nicht durch sich selbst zu erreichen, sondern nur durch seinen Anschluss an den Staat. Der 
Staatszweck fällt nämlich mit dem Zweck des Menschen zusammen; der Staat ist ein 
Mensch im Grossen. Darum muss der Staat dieselben Tugenden verwirklichen, wie der 
Mensch. Von diesem zu erstrebenden Ideal entwirft Plato folgendes Bild: Der Nährstand, die Acker- 
bauer, verkörpert die Selbstbeherrschung, der Wehrstand, die Wächter, die Tapferkeit, und der 
Lehrstand, die Philosophen, welche zugleich die Herrscher des Staates sind, die Weisheit. Die 
Wächter, aus denen auch die Herrscher genommen werden, leben kommunistisch, und zwar sowohl 
hinsichtlich der Güter als der Frauen; für ihren Unterhalt kommt der dritte Stand auf. Dieser 
aristokratische Idealstaat Platos schliesst also die beiden unteren Stände von der Herrschaft aus, 
und hat überdies für die Handwerker und Handeltreibenden überhaupt keinen Raum innerhalb 
der Staatsbürgerschaft; diese Gewerbe fallen den Sklaven, Schutzbefohlenen und Fremden zu. 
Durch das geordnete Zusammenwirken der 3 Stände bringt der Staat die höchste Tugend, die Ge- 
rechtigkeit, zur vollendeten Darstellung. 
Aristoteles, in der Naturwissenschaft erfolgreicher Empiriker, hat sich nicht so weit 
von Plato frei zu machen vermocht, dass er auch in erster Linie empirisch vorging. Vielmehr schil- 
dert auch er uns einen Idealstaat. Die abschliessende Stellung des Aristoteles zeigt sich darin, dass 
er zwischen den Extremen zu vermitteln sucht. Sein Idealstaat soll eine Mischung von Demo- 
kratie und Aristokratie sein. Die Erziehung der Bürger nimmt der Staat in die Hand, und durch 
ihre Gleichmässigkeit wird bewirkt, dass die Bürger sich nur wenig an Begabung und Ausbildung 
unterscheiden. Darum sollten alle Bürger die gleiche Stellung im Staate einnehmen. Aber die 
natürlichen Unterschiede der Altersstufen bleiben dennoch bestehen. An sie anknüpfend fügt 
Aristoteles dem demokratischen Gleichheitsprinzip ein aristokratisches Element in Hinsicht auf 
die Ausübung der Staatsgewalt hinzu. An ihr nämlich sollen nur die Bürger eines gewissen mitt- 
leren Alters beteiligt sein. Die jungen Männer dienen dem Staate als Krieger, die ältesten als Priester; 
denn für den Kultus der Götter zu sorgen, ist auch eine Obliegenheit des Staates. 
  
!) Zeitschrift für Politik III 226 Anm. 3.
	        
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