158 Adolf Tecklenburg, Allgemeine Würdigung der Herrschaftsformen.
Das Voll ist nicht nur der Ausgangspunkt der Staatsgewalt; sondern es behält auch für immer
deren Ausübung. Dicse Stellung des Volkes im Staate bezeichnete Rousseau dadurch, dass er den
Bodin’schen Souveränetätsbegriff auf das Volk übertrug.
Jedem Einzelnen kommt ein Bruchteil von der ihrem Jnhalt nach ungeteilten Souveränetät
zu. Mit diesem Begriff der Volkssouveränetät ist die Lehre von der Gewaltenteilung ausgeschlossen.
Wenn Rousseau diese dennoch aufrechterhält, so hat das nur eine äusserliche Bedeutung; denn
gerade das ihr Charakteristische, die gegenseitige Hemmung der Organe vermag Rousseau nicht
durchzuführen. Alle Gewalt leitet sich vom Volke ab.!:) Wenn also auch die Exekutive von einem
Einzelnen, Fürst genannt, ausgeübt wird, so beruht doch dessen Macht nicht etwa auf einem Herr-
schaftsvertrag, sondern bloss auf einem Auftrag; seine Stellung ist also jederzeit widerruflich.
Für die Ansicht Rousseaus von der besten Staatsform ist die nähere Erläuterung wichtig,
die er über die gesetzgebende Tätigkeit des Volks gibt. In dem Gesellschaftsvertrag, der selbst mit
Stimmeneinhelligkeit geschlossen ist, wurde bestimmt, dass zukünftige Beschlüsse des Volkes nach
absoluter Majorität gefasst werden sollten. Darum ist dieser Mehrheitswille als der allgemeine
Wille, die volont& generale, anzusehen. Von diesem allgemeinen Willen behauptet Rousseau, dass
er immer richtig und auf den öffentlichen Nutzen gerichtet sei.'”) Wenn so dem Mehrheitswillen
des Volkes Untrüglichkeit zukommt, dann ist es begreiflich, dass Rousseau ihn so rein als möglich
darstellen und somit jede Repräsentation verwerfen musste. Damit hat Rousseau die unmittel-
bare Demokratie für die allein rechtmässige und vernünftige Herrschaftsform erklärt.
Zwar wurde die Rousseau’sche Lehre durch Sie y&s dergestalt umgebildet, dass an Stelle
der Beschlussfassung durch das ganze Volk eine Repräsentant lung trat. Allein mit
dieser Einschränkung führte die französische Verfassung vom 3. September 1791 auf Rousseau’sche
Gedanken zurück, und überdies wies die Verfassung vom 24. Juni 1793") in der ‚reclamation‘
—.d. i. ein Referendum nach heutigem Sprachgebrauch — eine Einrichtung auf, die wenigstens
soweit als möglich der Rousseau’schen Forderung nachkam und unter gewissen Voraussetzungen
zu den Beschlüssen der Repräsentanten die Zustimmung des Volkes selbst forderte. Allerdings
wagte man nie die Verfassung von 1793 in Kraft zu setzen; indessen die inneren Wirren und die
äussere Schwäche Frankreichs, zu welchen es schon unter der Verfassung von 1791 gekommen
war, sind bekannt. In dieser Entwicklung liegt das Urteil über die demokratische Staatsform, welche
man als eine notwendige Folge der Volkssouveränetät angesehen hatte, ausgesprochen. „Die fran-
zösische Verfassungsgeschichte‘, sagt R eh m ‚::) hatte zur Genüge erkennen lassen, dass es über-
trieben war, wenn man das Prinzip der Volkssouveränetät bisher als die unter allen Umständen
beste Staatsform ansprach. Die Verfassung von 1791 hatte dem Individuum nicht nur keine pri-
vate, sondern auch keine politische Freiheit, sondern Despotie Weniger gebracht. ... . Es war nicht
mehr möglich, in dem Staate der Demokratie allein die vernunftgemässe Staatsform zu erblicken.“
Die Lehren Rousseaus nahm K an t!*) in umgebildeter Form und, ohne sie auf unmittel-
bare praktische Verwirklichung zu richten, theoretisch auf. In der Fassung, die Kant diesen Lehren
gab, dienten sie ihm als Massstab zur Kritik des bestehenden Polizeistaats und seiner, die indivi-
duelle Betätigung hemmenden Bevormundung. Die Freiheit des Individuums bildet bei ihm das
Grundprinzip. Dementsprechend führte er logisch die Entstehung des Staates auf eine Betätigung
der Individuen zurück; dagegen folgte er Rousseau nicht in der Lehre von der Gleichheit der Indi-
viduen und lehnte die von ihm auf diesem Grunde aufgebaute Lehre von einer tatsächlichen Grün-
dung des Staates durch einen Vertragsschluss ab. Die Gewähr für die dauernde Freiheit des Indi-
viduums erblickte er in der unbedingten Herrschaft des Gesetzes im Staate. Für die Schaffung der
Gesetze schloss er sich dem unter Sieyes’ Einfluss aufgekommenen Repräsentativsysteme an. Alle
Staatshandlungen sollten nur Verwirklichung der Gesetze sein. Damit war an die Stelle des abso-
22) Richard Schmidt I 70£.
22) Tecklenburg, Entwicklung des Wahlrechts in Frankreich, 1911, S. 28; Menzel, Zeitschrift
für Politik III, 227 Anm. t.
14) Art. 69 ff.
15) Allgemeine Staatelehre, S. 2565.
16) Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, $ 43 ff.