Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

  
4 Philipp Zorn, Politik als Staatskunst. Ihr Begriff und Wesen. 
Dingen nachzugeben: so nahm Bismarck um des grossen volkswirtschaftlichen und staatsrecht- 
lichen Erfolges der Reichsfinanzreform von 1879 willen die sogenannte Frankensteinsche Klausel in 
Kauf. Und nach gleich n Gesichtspunkten muss m. E. die Finanzreform ven 1909 beurteilt werden. 
5. Im konstitutionellen Staate aber bietet weitaus die grösste Schwierigkeit für die Politik, 
für die Staatskunst, die Herstellung einer Mehrheit in der Volksvertretung. Im konstitutionell- 
monarchischen Staate tritt hierzu noch als entscheidender Punkt das Verhältnis der Volksvertretung 
zum Monarchen. Wenigstens im deutschen konstitutionell hi Staate gilt heute noch 
ler Rechtsgrundsatz als zweifellos, dass der Wille des Monarchen die endgültige Entscheidung gibt 
und dass der Monarch in keinem Falle dem Willen der Volksvertretung rechtlich sich zu beugen ver- 
pflichtet ist, ebenso wie andererseits im Rahmen ihrer Zuständigkeit für die Volksvertretung keine 
Rechtspflicht besteht, in irgend einem Punkte sich dem Willen des Monarchen zu unterwerfen. Auf 
Jieser staatsrechtlichenGrundlage hat sich die Entwicklung zur heutigenGrösse in Preussen-Deutsch- 
land vollzogen. In anderen monarchischen Staaten ist dies allerdings, sei es durch die Kraft der Gc- 
wohnheit, sei es durch direkte Verfassungsvorschriften anders, indem in gewissen Fällen und unter 
zewissen Voraussetzungen der Monarch gebunden ist, den Willen der Volksvertretung als mass- 
sebend anzuerkennen. In den romanischen, angelsächsischen, skandinavischen Ländern wird dies 
als Rechtsgrundsatz anerkannt werden müssen; immerhin ist es, soweit es auf Gewohnheit beruht, 
wie in England, nicht zweifellos. Der wichtigste praktische Fall dieser Art ist der Budgetkonflikt 
in Preussen von 1862—-1866; eine theoretische oder gesetzgeberische Lösung aber hat der Kern- 
punkt des damaligen Konfliktes auch heute noch nicht gefunden. Von der Persönlichkeit des Herr- 
schers wird in solchen Grundfragen des Staatslebens die Entscheidung in hohem Grade bedingt 
sein und zwar ebenso, wenn formellrechtlich das deutsch-konstitutionelle, wie wenn das angel- 
sächsisch-parlamentarische System gilt (Wilhelm I. von Preussen, Eduard VII. von England). 
Alle wichtigen Entscheidungen der inneren Politik aber werden doch wenigstens in der Regel 
davon abhängen, dass eine Mehrheit der Volksvertretung hergestellt werden kann. Dies bietet aber 
oftmals die äussersten Schwierigkeiten. Alle Volksvertretungen sind in Parteien gespalten. Die Partei- 
bildung beruht in verschiedenen Ländern auf sehr verschiedenen Gesichtspunkten. Die aus der Er- 
fahrung der Jahrhunderte erwachsene politische Erziehung der Engländer hat im wesentlichen noch 
bis heute die Gliederung des Parlaments in zwei grosse politische Parteien aufrecht zu erhalten 
vermocht. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass die politische Kraft der Volksvertretung umso 
vrösser sein wird, je weniger das Parlament in Parteien zersplittert ist und vielleicht darf man so- 
weit gehen, angesichts der englischen Erfahrungen diesen Punkt als Gradmesser der politischen 
Erziehung einer Nation zu bezeichnen. Die festländischen Parlamente weisen durchweg sehr starke 
und sehr verschiedenartige Parteizersplitterung auf. 
Es stehen sich bei der Parteibildung zwei entscheidende Gesichtspunkte gegenüber. Selbst- 
verständlich werden die Grundsätze einer Partei, die in der Regel in einem Programm niedergelegt 
werden, die Überzeugung dieser Partei von den für das Staats- und Volkswohl notwendigen Mass- 
nahmen ausdrücken. Jede derartige Zusammenstellung von grossen politischen Grundsätzen wird 
als im besten Glauben und mit bester Kraft formulierte Anweisung zum politischen Handeln mit 
grösster Achtung angesehen werden müssen: Jedes Parteiprogramm ist der Entwurf einer Staats- 
verfassung, wie sie die Partei für die beste hält und mit aller Anstrengung praktisch zu verwirk- 
lichen strebt. 
Dem gegenüber ist in den meisten Verfassungen der Fundamentalgrundsatz niedergelegt: 
Jeder Volksvertreter ist nicht Abgeordneter einer Partei, sondern Vertreter des ganzen Volkes, und 
um die ganze Hoheit und Gewalt dieses Grundsatzes zur Geltung zu bringen ist dem der andere 
Grundsatz in der Regel beigefügt: Die Vertreter des Volkes sind nicht an Aufträge und Instruktionen 
zebunden, das ist: sie dürfen rechtlich nicht an solche gebunden werden. gemäss ausdrücklicher ver- 
fassungsmässiger Vorschrift. Der hohe Idealismus dieses Gedankens aber verflüchtigt sich in der 
Wirklichkeit der menschlichen Dinge immer und verflüchtigt sich umsomehr, je zahlreicher die Par- 
teien der Volksvertretung sind. Gründe rein politischer Natur, Gründe wirtschaftlicher Interessen, 
Stammesverschiedenheiten, die bis zu scharfen nationalen Gegensätzen sich steigern, machen oft.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.