Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Adolf Tecklenburg, Allgemeine Würdigung der Herrschaftsformen. 167 
  
Regierung zu führen oder zu stützen.””) Bietet einen solchen Faktor z. B. die französische Depu- 
tiertenkammer? Das verneint Moreau; eine Majorität, die sich möglicherweise aus zehn ver- 
schiedenen Parteigruppen zusammensetze, vermöge kein inhaltreiches und klares Programm auf- 
zustellen und sich nicht dauernd zu behaupten. Der Sturz eines Ministeriums bedeute nur Änderung 
einiger Namen und Wiederkehr der übrigen Minister mit ebenso unbestimmtem Programme. Das 
sei keine parlamentarische Regierung, sondern allenfalls ihre Karrikatur.”*) 
Zum Schlusse darf nicht übersehen werden, dass auch der warme Verteidiger der konsti- 
tutionellen Regierung, Seydel, die Prüfung der tatsächlichen Angemessenheit ausdrücklich her- 
vorhebt. Wer prüfen wolle, ob diese oder die parlamentarische Regierung für einen Staat am zweck- 
mässigsten sei, der werde nicht den philosophischen Vorzug der einen Staatsform vor der andern) 
sondern er werde nachzuweisen haben, dass diese Staatsform für diesen Staat die beste sei.”, 
bb) Unmittelbare Beteiligung des Volkes an der Ausübung der Staats. 
gewalt. Das Schlagwort dieser Richtung in der Entwicklung ist Referendum. Aber die 
Beurteilung auf die Frage zu richten, ob das Referendum gut sei oder nicht, wäre einseitig. 
Zuvörderst muss die Frage geprüft werden, ob für ein Referendum in jedem Staate Raum vorhanden. 
Die Frage ist für Deutschland zurzeit zu verneinen. Man darf sich nicht verhehlen, dass in Deutsch- 
land der Parlamentarismus oder, juristisch gesprochen, die repräsentative Herrschaftsform jung ist. 
Das Referendum aber erfordert, um sich bewähren zu können, politische Schulung des Volkes einer- 
seits und sorgsame Durchbildung des Parlamentarismus andrerseits, damit es, wie das schon aus 
seinem umständlichen Mechanismus her“orgeht, nicht zu häufig in Anwendung gebracht werde. 
Um nur auf juristische Voraussetzungen für eine gedeihliche Entwicklung des Parlamentarismus hin- 
zuweisen, so ist weder der Wahl der Repräsentanten,‘°) noch auch dem Beschlussverfahren der 
Parlamente*) eine genügende Pflege zuteil geworden. Solange hier Besserungen möglich, sind diese 
leichterund dringender, *) als eine so tiefgreifende Reform wie die V 
sei es auch nur unter begrenzten Voraussetzungen. Es ist darum nicht auffällig, wenn die Forderung 
eines Referendums für deutsche Stasten bisher wohl nirgends gestellt wurde. 
In England ist zwar bei Gelegenheit der jüngsten Verfassungsreform die Frage eines 
Referendums erwogen“), aber es ist kaum bis zu einem formulierten Antrage gekommen. Die ge- 
ringere Bedeutung des Referendums für England hat den entgegengesetzten Grund wie in Deutsch- 
land. Im Stammlande des Parlamentarismus hat ohne äusserliche Verfassungsänderung sich die 
Wählerschaft bereits zu einem beträchtlichen Faktor bei der Ausübung der Staatsgewalt aufge- 
schwungen.®) Das beweisen die zahlreichen Auflösungen des Parlaments, die dem Wähler häufigeren 
Ausdruck seiner Meinung ermöglichen.®) Noch charakteristischer aber zeigt sich die Bedeutung der 
Wählerschaft darin, dass das Oberhaus, wo es sich zu einem Veto entschliesst, in den Wählern der 
Unterhausmitglieder seine Stütze sucht. „Wir meinen‘. — so paraphrasiert Sidney Lo w“*) dieMotive, 
mit welchen das Oberhaus eine abgelehnte Bill an das Unterhaus zurückgibt, — „Ihr wäret unter 
andern Voraussetzungen gewählt worden. Wir bemerkten in Euern Wahlreden keinerlei spezielle 
Beziehung auf diesen Gegenstand. Wir werden darum Euern Gesetzentwurf verwerfen, und Ihr 
könnt Euch an das Volk wenden, und ihm die Frage in isolierter, bestimmter Form vorlegen. Wenn 
  
”%) Richard Schmidt in der Zeitschrift für Politik II 190. 
’s) Moreau, droit constitutionnel, 1908, 387 ff. 
”) Seydel, Abhandlungen 141; in gleicher Weise: Jellinek, Staatslehre 688. 
®) Z. B. stammt das Reichstagswahlgesetz aus 1869, das preuss. Wahlgesetz für die zweite Kammer 
aus 1850. 
8) Man vergleiche das englische, nordamerikanische, schweizerische Beschlussverfahren mit der Ge- 
schäftsordnung für den deutschen Reichstag, wo z. B. für die Art. 71, 77, 78 des Geschäftsreglements für den 
schweizerischen Nationalrat vom 5. Juni 1903 jedes Gegenstück feblt. 
®2) s. in dieser Hinsicht unten das Urteil Bryce 
®)s. Mendelsohn Bartholdy i. Jahrbuch für öffentl. Recht III 158 Anm. 1. 
8) Über diese Bedeutung der Parlamentsauflösung s». Roscher, S. 358. 
®) Rehm, Staatslehre 318 f.; vgl. auch Lo w 164. 
®), Low, S. 212; vgl. ferner Jellinek, Verfassungsänderung u. Verfassungswandlung, S. 78.
	        
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