Full text: Handbuch der Politik. Erster Band. (1)

Adorf Tecklenburg, ‚Allgemeine Würdigung der Herrschaftsformen. 169 
  
der Neuerungssucht heilsam und als ein Mittel, das Parteigetriebe zu «rösserer Sachlichkeit in 
der Prüfung der gesetzgeberischen Massregeln hinzuführen.®) Die allgemeine Zufriedenheit 
andrerseits mit dem so herbeigeführten Konservativismus wird dadurch gewährleistet, dass das 
Referendum seiner Form nach die strengste Anwendung demokratischer Prinzipien darstellt.*) ®) 
cc) Der Bundesstaat. 
Voraussetzung zur Bildung eines Bundesstaates ist örtlicher Zusammenhang von Einzel- 
staaten, Verknüpfung durch Geschichte, Rassenverwandtschaft und dergleichen anderes, jedoch 
ohne Notwendigkeit, dass alle bezeichneten Tatsachen zugleich zutreffen. Mit einem Worte 
können wir hier von gemeinsamer Nationalität sprechen. Sodann ist das Begehren der einzel- 
staatlichen Bevölkerung erforderlich, ihre Staaten zu einer höheren Einheit zusammen- 
zuschliessen.’) Hieraus wird ohne weiteres die Besonderheit und Vereinzelung der Bildung von 
Bundesstaaten klar, und für die Gegenwart wenigstens begreiflich, dass man allgemeinere Urteile 
kaum ohne Verknüpfung mit der Betrachtung eines speziellen Bundesstaates finden wird 
So unseren Blick besonders auf Deutschland gerichtet, finden wir in der Zeit des deutschen 
Bundes gegenüber diesem Staatenbund den Bundesstaat als das ideale Ziel hingestellt, das allein 
Stärke und Dauerhaftigkeit verspreche”.) Skepsis gegen die theoretische Möglichkeit des Bundes- 
staates setzt stärker ein, als das deutsche Reich geschaffen war. Freilich schon vorher hatte man in 
Deutschland,°*) wie in Amerika“') Vorgänger, welche an der Teilung der Souveränetät zwischen Bund 
und Einzelstaat — das war nämlich die damals herrschende Theorie — Anstoss nahmen. 1872 
führten dann Held und Seydel'%) aus, dass die Souveränetät ihrem Begriff nach unteilbar sei 
und also entweder nur dem Reich oder nur den Einzelstaaten Souveränetät zukommen könne. 
Hätte sich diese Lehre darauf beschränkt, nur das tatsächliche Leben rechtlich erfassen zu wollen, 
so wäre in ihr noch kein Urteil über die Zweckmässigkeit oder Haltbarkeit der deutschen Reichs- 
verfassung zu erblicken. Allein Held wenigstens ging weit über ein solch blosses Streben nach 
wissenschaftlicher Erkenntnis hinaus und stellte ohne jeden Umschweif ‚allesogenannten Staaten- 
verbindungen“, also auch den Bundesstaat, bloss als „Etappen auf dem Einigungs- oder 
Enteinigungswege der Völker, also Übergangsstationen“ hin. „Nur der Gang oder die Richtung 
welche diese Entwickelungen selber nehmen, und wobei durch die Umstände nicht nur Rückschritte, 
sondern auch sehr lange Zwischenperioden äusserer Ruhe eintreten können, entscheidet, indem alle 
diese Entwicklungen entweder mit der vollen staatlichen Einigung, d. h. dem Einheitsstaate oder, mit 
der vollständigen staatlichen Enteinigung, d.h. mit einer wahren Staatenmehrheit enden müssen.‘ !%) 
Heute ist diese Auffassung fast!'?) ganz verlassen, und man sieht umgekehrt im Bundesstaate 
die dauerhafteste Form für grosse Staatsgebilde. Erleichtert wurde dieser Umschwung durch die von 
Georg Meyer'®) begründete und heute vorherrschende'") Lehre, dass Souveränetät kein wesent- 
  
  
%a) Sidgwick 602; Jellinek., Schriften II, 430. 
*) Duguit, droit constitutionnel, 1907, 299. 
%) Auf ältere Urteile, z. B. Seydel, Abhandl. 1893, 150 ff. und in Hirths Annalen, 1898, 484 f. 
dürfte als vor einer ausgedehnteren praktischen Anwendung ausgesprochen weniger Gewicht zu legen sein. Von 
neueren erklärt sich für beschränkte Anwendung des Referendums unter Ausschluss jeder Volksinitiative Sidg- 
wick, 559 ff. 
®%) Dicey. Law of the Constitution, 1908, 137 ff.; vgl. dazu Jellinek, Staatslehre, 112 ff. 
®) Waitz, Grundzüge der Politik, 1862, 152 ff. 
8) Vgl. bierüber Waitz, 212. 
%) Vgl. hierüber Jellinek, Staatslehre 750. 
10) Seydel, in der Tübinger Zeitschrift J.-G. 1872, jotzt Abhandlungen. 1893 $S. 1 ff. 
0) Held, Verfassung des deutschen Reiches, 1872, S. 29, 30; vgl. sum Text das allgemeine Urteil 
Pilotys (Ein Jahrhunde.t bayrischer Staatsrechtsliteratur. Festgabe für Laband. I. 265; über Held: „‚S-in 
Wirken war dem We:denden gewidmet. das Gewordene noch kritisch oder gar systematisch zu erschöpfen. 
ging über seine B’stimmung und Kräfte.‘ 
1%) Nur Schollenberger (Politik, 285) vertritt sie noch. 
108) Georg Meyer, Staatsrechtliche Prörterungen 1872 S. 2ff. 
10) Jellinek, Staatslehre, 750 Anm. 2.
	        
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