Paul Eltzbacher, Der Anarchismus. 171
vertretung oder der harmlosen Besucher eines Kaffees geschleudert wurden, an Bluttaten wie die
Ermordung des Königs Humbert von Italien, des französischen Präsidenten Carnot oder gar der
alten Kaiserin Elisabeth von Österreich. Nichts hat so sehr wie diese Verbrechen die Aufmerksam-
keit auf den Anarchismus gelenkt. Nichts scheint ihn so gut wie sie zu kennzeichnen.
Vielfach auch betrachtet man den Anarchismus als die äusserste Steigerung der sozialistischen
Gegnerschaft gegenüber unsrer Gesellschaft. Trotz aller Proteste der Sozialdemokraten erklärt
man die Sozialdemokratie als die „Vorfrucht des Anarchismus‘, den Anarchismus als eine letzte
Steigerung des Sozialismus. In der Tat ist in den letzten Jahrzehnten eine Reihe von Sozialdemo-
kraten zum Anarchismus übergegangen, um sodann die Sozialdemokratie als würdige Genossin
der „reaktionären Bourgeoisie‘‘ aufs heftigste zu befehden. So scheint die Meinung gerechtfertigt,
die in dem Anarchismus nichts anderes als einen aufs äusserste getriebenen Sozialismus erblickt.
Es ist erstaunlich, was für eine Unkenntnis über den Anarchismus besteht, nicht nur
beim grossen Publikum, sondern auch bei denen, die sich berufstnässig mit ihm beschäftigt
und mehr oder weniger umfangreiche Bücher über ihn geschrieben haben. Man hört und
liest über den Anarchismus die seltsamsten Urteile. Bald soll er überhaupt kein bestimmtes
Ziel haben, bald soll sein Ziel in der Beseitigung der Gesellschaft oder doch wenigstens der
Rechtsordnung bestehen. Besonders verbreitet aber sind die beiden Meinungen, von denen
die eine sein Wesen in einem verbrecherischen Kampf gegen alles Bestehende, die andere in
einer Übertreibung sozialistischer Ideen erblickt. Was ist an diesen Meinungen wahres?
Das Wesentliche im Anarchismus treifen sie jedenfalls nicht. Er ist kein blosses Panier eines
Verbrecherordens und keine blosse Übertreibung des Sozialismus. Der Anarchismus ist eine
Staatslehre von ausserordentlicher Kühnheit und Grossartigkeit. Er ist dieLehre, die
dem Staate die Daseinsberechtigung absp richt. Andere Staatslehren er-
örtern, ob der Staat ein grösseres oder geringeres Mass von Aufgaben haben soll. Der Anarchismus
untersucht die Frage, ob der Staat sein soll, und er verneint sie. Er lehnt den Staat ganz allgemein
ab, nicht nur die Monarchie, sondern ebenso auch die freieste Republik. .
Auf diese Weise tritt der Anarchismus in entschiedenen Gegensatz zu allen anderen Staats-
lehren. Bei weitem den grössten Kreis von Aufgaben weist dem Staate der Sozialismus zu.
Nach ihm soll der Einzelne nur ein bedeutungsloses Rädchen in der grossen Staatsmaschine sein,
die gesamte Produktion, Landwirtschaft wie Industrie, soll vom Staat betrieben werden, jeder
Einzelne für den Staat als dessen Angestellter arbeiten und auf diese Weise in eine vollkommene
Abhängigkeit von ihm herabgedrückt sein. Nicht ganz so weitgehtderKonservativismus.
Er denkt nicht daran, dem Staate die gesamte Produktion zu übertragen, aber er ist durchdrungen
davon, dass der Einzelne in der Freiheit seiner Bewegung in erheblichem Masse um des grossen
Ganzen willen beschränkt sein muss und dass der Staat deshalb einer weitgehenden Macht über ihn
nicht entraten kann. Noch ein geringeres Mass von Aufgaben will dem Staate der Liberalis-
mus übertragen. Für ihn liegt das wertvollste Mittel einer gedeihlichen Entwicklung in einer
möglichst weitgehenden Freiheit des Einzelnen, der „Racker von Staat‘ ist nur geeignet, diese
Entwicklung durch täppische Eingriffe zu stören, deshalb gilt es, seine Macht auf ein Mindestmass
zu beschränken. Der Anarchismus will den Staat gänzlich aus der Welt schaffen. Nach ihm
kann alles das, was nach den anderen Staatslehren dem Staate obliegt, viel besser durch das freie
Zusammenwirken völlig unbeschränkter Einzelner erreicht werden. Wenn man erwägt, dass der
Sozialismus dem Staate den grössten Kreis von Aufgaben zuweist, der Konservativismus einen
kleineren, der Liberalismus einen möglichst kleinen, so kann man den Anarchismus als einen
auf die äusserste Spitze getriebenen Liberalismus bezeichnen.
Der Anarchismus beruht, gleich anderen Staatslehren und in noch höherem Masse als jene,
nicht auf sorgfältigen und umfassenden Beobachtungen und streng gezogenen Schlüssen, sondern
auf einer gewissen Seelenstimmung. Diese Grundstimmung des Anarchismus ist
ein unerschütterliches Vertrauen in die Güte der Menschennatur und im engsten Zusammenhang
damit ein glühender Hass gegen allen äusseren Zwang. Aus dieser Grundstimmung entnimmt der
Anarchismus die Überzeugung, dass der grösste Teil der Übel, unter denen die Menschheit gegen-
wärtig leidet, durch den Staat und seinen Zwang verschuldet sei und dass nach Beseitigung des Staates